Die Eltern hatten ihr gut vier Wochen altes Kind 2022 in einem Krankenhaus vorgestellt. Untersuchungen zeigten Verletzungen unter anderem der harten Hirnhaut und des Hirngewebes, die vor allem bei einem Schütteltrauma auftreten. Das in dem daraufhin eingeleiteten Sorgerechtsverfahren eingeschaltete Familiengericht war davon überzeugt, dass das Kind zwei jeweils durch einen Elternteil verursachte, potentiell lebensgefährliche Schütteltraumata erlitten hatte und entzog daher das Sorgenrecht.
Auf ihre Beschwerde hat das OLG den Eltern das Sorgerecht wieder vollständig zugesprochen – allerdings mit Auflagen. So sollten die Eltern für eine vom Jugendamt festgelegte Zeit gemeinsam mit dem Kind in eine Eltern-Kind-Einrichtung ziehen. Das OLG glaubte auch, dass die Verletzungen von den Eltern verursacht worden waren und sah ein "verbleibendes Risiko" neuer Verletzungen. Eine dauerhafte Fremdunterbringung hielt es dennoch nicht für nötig, weil das Kind inzwischen älter ist und es das Risiko neuer Verletzungen als gering einstufte.
Anders sah es der Verfahrensbeistand, der für das Kleinkind im Zuge des Sorgerechtsverfahrens bestellt wurde. Er sah weiter eine erhebliche Gefährdung seines Schützlings und legte Beschwerde in Karlsruhe ein.
BVerfG: Hohe Begründungsanforderungen
Seine Verfassungsbeschwerde blieb erfolglos. Das BVerfG stellte klar, dass die Prognose des OLG, einer zukünftig drohenden Kindeswohlgefährdung mit den Auflagen ausreichend sicher entgegenwirken zu können, gemessen an dem Anspruch des Kindes aus Art. 2 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG auf staatlichen Schutz verfassungsrechtlich hinzunehmen sei (Beschluss vom 20.11.2024 – 1 BvR 1404/24).
Eingreifen darf der Staat nur, so das BVerfG, wenn die Eltern ihrer Erziehungsverantwortung nicht gerecht werden oder das Kind aus anderen Gründen nicht ausreichend schützen können. Ob eine Trennung des Kindes von seinen Eltern verfassungsrechtlich zulässig ist, hänge insbesondere von der Gefahrenprognose und der drohenden Schwere des Schadens für das Kind ab. Dem müsse die Ausgestaltung des fachgerichtlichen Verfahrens Rechnung tragen. Es müsse geeignet und angemessen sein, eine möglichst zuverlässige Grundlage für die vom Gericht anzustellende Prognose zu erlangen. Je gewichtiger der zu erwartende Schaden für das Kind oder je weitreichender mit einer Beeinträchtigung des Kindeswohls zu rechnen sei, desto geringere Anforderungen seien an den Grad der Wahrscheinlichkeit zu stellen, mit dem auf eine drohende oder erfolgte Verletzung geschlossen werden könne. Auch müsste dann die Tatsachengrundlage weniger belastbar sein, von der auf die Gefährdung des Kindeswohls geschlossen werde.
Bestehen also Anhaltspunkte dafür, dass dem Kind durch eine Misshandlung erhebliche, unumkehrbare Schäden drohen, insbesondere weil es in der Vergangenheit bereits zu einer solchen Misshandlung kam und die Eltern hierfür auf die eine oder andere Art als verantwortlich anzusehen sind, so verlange ein Absehen von einer Trennung des Kindes von der Familie ein hohes Maß an Prognosesicherheit, dass dieser Schaden nicht eintreten werde. Dies schlage sich in hohen Begründungsanforderungen einer Entscheidung nieder.
Prognose des OLG ist "hinzunehmen"
Daran gemessen werde der OLG-Beschluss den verfassungsrechtlichen Anforderungen noch gerecht - trotz deutlicher Anhaltspunkte für eine zukünftig mögliche Kindeswohlgefährdung. Die Prognose, ob sich eine erhebliche Schädigung des Kindes mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lasse, seien trotz des hier geltenden strengen Prüfungsmaßstabs verfassungsrechtlich hinzunehmen, entschieden die Verfassungsrichter und -richterinnen.
Für seine Wertung, die Gefahr eines erneuten Schütteltraumas sei deutlich gesunken, konnte sich das OLG auf die Ausführungen des rechtsmedizinischen und des psychiatrischen Sachverständigen stützen. Auch das Argument, altersbedingt sei, da das Kind nunmehr durchschlafe, nicht mehr mit Situationen zu rechnen, die in der Vergangenheit wohl zu dem Schütteln geführt hatten, könne - angesichts tragfähiger Grundlagen - nicht als deutlicher Wertungsfehler angesehen werden.
Entsprechendes gelte auch für die prognostische Wertung, mögliche zukünftige körperliche Übergriffe der Eltern hätten voraussichtlich keine derart schwerwiegenden Folgen wie das Schütteln eines Säuglings. Auch hier konnte sich das OLG in verfassungsrechtlich hinzunehmender Weise auf die Ausführungen des psychiatrischen Sachverständigen stützen. Auch die sachverständige Annahme, die Eltern würden nicht in anderer Weise Gewalt gegenüber dem Kind anwenden, ließen die Karlsruher Richterinnen und Richter durchgehen. Das gelte jedenfalls deshalb, weil das OLG zudem festgestellt habe, dass keiner der beiden Elternteile zu erheblichen Gewaltausbrüchen neige.
Ob die festgestellten, für die Gefahrenprognose bedeutsamen Umstände auch ein anderes als das vom OLG gefundene Ergebnis der Prognose erlaubt hätten, unterliegt dabei laut BVerfG trotz des hier strengen Maßstabs nicht der verfassungsgerichtlichen Prüfung. Diese sei auf deutliche Fehler bei der Feststellung und Würdigung des Sachverhalts beschränkt, umfasse aber keine eigene Gefahrenprognose durch das BVerfG (Beschluss vom 20.11.2024 - 1 BvR 1404/24).