Für Innovationen im Wahlrecht ist nicht das BVerfG, sondern der Gesetzgeber zuständig. Mit der Wahlrechtsreform 2023, die Gegenstand der Entscheidung des BVerfG vom Dienstag war, hat der Gesetzgeber eine solche Innovation gewagt. Im historischen und internationalen Vergleich mögen die Änderungen wenig ambitioniert erscheinen. Auch blieben sie gegenüber manchen in der Wahlrechtskommission erwogenen Alternativen zurück.
Doch das geltende Recht haben sie an markanten Punkten fortentwickelt: Die Sitzzahl im Bundestag wird auf 630 gedeckelt. Wahlkreisgewinner und -gewinnerinnen ziehen nur noch in den Bundestag ein, wenn dies vom Zweitstimmenergebnis gedeckt ist. Auf den letzten Metern des Gesetzgebungsverfahrens strich die Ampel-Koalition zudem die "Grundmandatsklausel", die der Linkspartei zuletzt den Einzug in den Bundestag gesichert hatte und die für die CSU unter den neuen Bedingungen der Zweitstimmendeckung eine Lebensversicherung wäre.
Dass sich Regierungs- und Oppositionsfraktionen nicht auf ein gemeinsames Modell einigen konnten, war ein politischer Schönheitsfehler. Die Streichung der Grundmandatsklausel – gegen den Rat der eigenen Sachverständigen– war sogar ein grobes politisches Foul. Wenn Teile der Opposition darin allerdings "Wahlbetrug" oder den "Versuch der Wahlrechtsmanipulation" wittern wollen, muss daran erinnert werden, dass eine solche Rhetorik der Delegitimierung Folgeschäden haben kann, die auf alle demokratischen Parteien zurückfallen. Die heutige Entscheidung lässt von diesen Vorwürfen aus verfassungsrechtlicher Sicht wenig bis nichts übrig.
Den zentralen Elementen des neuen Wahlrechts bescheinigt Karlsruhe vielmehr – wie erwartet und völlig zu Recht – ihre Verfassungskonformität. Einzig die Streichung der Grundmandatsklausel wird beanstandet. Die Ausführungen des Gerichts zu diesem Punkt sind zwar rechtlich weniger zwingend. Zu hoffen ist jedoch, dass die hier entwickelte "lex CSU" zumindest politisch befriedend wirkt.
Keine Einwände gegen die Zweitstimmendeckung
Zunächst zur Zweitstimmendeckung: Was war nicht alles in Stellung gebracht worden, um die Tatsache zu diskreditieren, dass Erststimmensieger nach dem neuen Wahlrecht unter bestimmten Bedingungen ohne Bundestagsmandat bleiben können. Schon faktisch spricht allerdings nichts dafür, der Eroberung eines Direktmandats einen gegenüber dem Listenmandat gesteigerten Legitimationswert zuzuschreiben. Zahlreiche Wähler kennen ihre Direktkandidaten nicht und geben ihre Erststimme allein nach der Parteizugehörigkeit ab. Die Idee, über die Erststimme würden primär Personen, nicht Funktionäre gewählt, trägt daher kaum.
Auch führt die Tatsache, dass ein Wahlkreis ohne Direktmandat bleibt, nicht dazu, dass die dortigen Wählerinnen und Wähler im Bundestag "verwaisten". Vielmehr sind auch erfolgreiche Listenkandidaten heute in aller Regel vor Ort präsent und haben dort für ein Direktmandat kandidiert. Weder garantiert ein Direktmandat also regionale Verwurzelung, noch ist ein Listenkandidat zwingend weit weg von den Leuten.
Eher wahrscheinlich ist es sogar, dass die Reform die Wahlkampfaktivitäten im Wahlkreis steigert, weil es nicht mehr nur darauf ankommt, den Kreis selbst zu gewinnen, sondern auch relativ besser als andere Wahlkreisbewerber der eigenen Partei abzuschneiden.
In knapp-lakonischem Ton
Auch verfassungsrechtlich lässt sich gegen das Erfordernis der Zweitstimmendeckung kein Stich machen. Denn der Gesetzgeber hat es nach der Vorstellung des Parlamentarischen Rats eben in der Hand, das Wahlrecht mit oder ohne stärkere Personalisierungselemente auszugestalten. Wenn er, wie 2023 geschehen, zwar an der Differenzierung zwischen Erst- und Zweitstimme festhält, deren Verhältnis aber neu tariert und den Erststimmensiegern keinen Platz im Parlament mehr garantiert, dann ist auch das eine verfassungsrechtlich zulässige Systementscheidung.
Bei der Prüfung der Vereinbarkeit der Neuregelung mit der Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl und der Chancengleichheit der Parteien räumt das Gericht daher zahlreiche Nebelkerzen ab. Einen Verstoß gegen das Grundgesetz stellt der Senat nicht fest. Kleine Spitzen kann er sich nicht verkneifen: "Auch wenn [eine Partei] alle oder nahezu alle Wahlkreismandate in einem Land gewinnt, wird sie damit nach der Konzeption des Grundgesetzes nicht zur Repräsentantin dieses Landes im Bundestag." Hier und andernorts schlägt die Entscheidung einen knapp-lakonischen Ton an, der dem Gericht gut steht.
Unterschätzte Missbrauchsgefahren
Ein wenig erstaunt dann allerdings der Umgang des Gerichts mit dem Problem parteiloser Wahlkreisbewerber. Diese sind mit dem Modell der Zweitstimmendeckung inkompatibel, weil sie keine Partei hinter sich haben, für die eine Zweitstimme abgegeben werden kann. In einer frühen Entscheidung hatte das Gericht aber verlangt, dass das Wahlvorschlagsrecht nicht bei den politischen Parteien monopolisiert werden darf. Die Ampel-Koalition hatte deswegen die Möglichkeit von parteilosen Wahlkreisbewerbern beibehalten. Diese werden nach § 6 Abs. 2 BWahlG vom Erfordernis der Zweitstimmendeckung befreit.
Diese an sich systemwidrige Regelung beanstandet das BVerfG nicht nur nicht, sondern betont erneut die Bedeutung parteiloser Bewerber – gegen alle historischen Erfahrungswerte. Das ist ein Problem, weil § 6 Abs. 2 BWahlG dazu benutzt werden kann, das Erfordernis der Zweitstimmendeckung gezielt zu umgehen. So könnten Mitglieder einer Partei, die an der Sperrklausel zu scheitern droht, nicht für ihre Partei, sondern als Unabhängige antreten. Das hätte zwar Nachteile für die Partei und führte insbesondere zur Reduktion ihres Zweitstimmenanteils (vgl. § 4 Abs. 2 Nr. 1 BWahlG). Unter Umständen kann sich eine solche Aktion für eine Partei allerdings lohnen, wenn die Wähler mitziehen. Ein solches Missbrauchsszenario ist durch die Wiedereinführung der Grundmandatsklausel zwar unwahrscheinlicher geworden. Ausgeschlossen ist es jedoch nicht. Hier muss nun der Gesetzgeber nachsteuern, etwa indem er den Parteien, die ein solches Spiel betreiben, die Wahlkampfkostenerstattung kürzt.
Die Grundmandatsklausel und die CSU
Die Ausführungen des Gerichts zur Grundmandatsklausel sind zwar nicht in gleicher Weise gelungen wie die Ausführungen zur Zweitstimmendeckung, aber im Großen und Ganzen doch stimmig.
Das BVerfG rekapituliert zunächst seine Rechtsprechung zu Sperrklauseln, die unter dem Gesichtspunkt der Wahlgleichheit gerechtfertigt werden müssen und mit Blick auf den Schutz der Funktionsfähigkeit des Parlaments auch gerechtfertigt werden können. Es bestätigt zudem, dass eine 5%-Sperrklausel für die Bundestagswahl die Integrationsfunktion der Wahl noch nicht beeinträchtigt. Das ergebe sich aus der "politischen Wirklichkeit", konkret dem Gleichklang der Sperrklausel des Wahlrechts mit der GO-BT, die für eine Fraktionsgründung ebenfalls eine 5%-Sperrklausel vorsieht und darauf die gesamte Binnenorganisation des Bundestags aufbaut.
Doch warum sollte letztere fix sein? Müsste die Organisation des Parlaments nicht eher dem Wahlrecht folgen als umgekehrt? Soweit allerdings – und das ist für das BVerfG der springende Punkt – durch geteilte politische Ziele und gelebte politische Praxis hinreichend sichergestellt ist, dass die Parteien im Bundestag eine Fraktionsgemeinschaft bilden werden, sich also gemeinsam den "parlamentarischen Organisationsstrukturen" unterordnen wollen, verfehle die (Wahlrechts-)Sperrklausel ihre Funktion, sei also nicht mehr gerechtfertigt. Weil das BWahlG 2023 dies nicht beachtet habe, liege ein Verfassungsverstoß vor. Der Senat macht kein Hehl daraus, dass diese Kriterien nur im Falle von CDU und CSU erfüllt sind.
Karlsruhe entzieht sich populistischen Erwartungen
Allerdings dürfte sich die Bedeutung dieser Passage darauf beschränken, den Gesetzgeber zur Neuregelung der Sperrklausel anzuhalten. Er muss also keineswegs die "lex CSU" ins BWahlG gießen, sondern kann selbstverständlich auch auf die Sperrklausel verzichten, diese herabsetzen oder anderweitig modifizieren. Hierauf wird sich die Reformdiskussion jetzt rasch konzentrieren.
Dass das BVerfG die bisherige Grundmandatsklausel auch für eine mögliche Ausgestaltungsvariante hält, sollte nicht überbewertet werden. Das Gericht bemüht sich zwar zu zeigen, weshalb eine Grundmandatsklausel mit dem Konzept der Zweitstimmendeckung nicht völlig inkompatibel ist. Allerdings handelt es sich hier wohl eher um einen pragmatischen Ansatz, um die durch das Urteil geschaffene Rechtslage für die kommende Bundestagswahl möglichst übersichtlich zu gestalten. Warum eine Partei mit drei erfolgreichen Wahlkreiskandidaten und 2% der Zweitstimmen in diesem Umfang in den Bundestag einziehen soll, während eine Partei mit 4% der Zweitstimmen und nur zwei erfolgreichen Direktkandidaten hingegen außen vor bleibt, war schon nach dem alten Recht schwer zu vermitteln. Für das neue Recht gilt das umso mehr. Viel stimmiger einfügen würde sich hier etwa eine moderate Absenkung der Sperrklausel.
Insgesamt erfüllt die Entscheidung alle in sie gesetzten Erwartungen. Ebenso wie das erst jüngst ergangene Urteil zur Vorgängerreform entzieht sich Karlsruhe populistischen Erwartungen, belässt dem Gesetzgeber die notwendigen Spielräume und stabilisiert die notwendigen Grenzen. Die Diskussion zur Zukunft der Sperrklausel ist nun offen. Hoffen wir, dass sie im selben nüchtern-realistischen Modus geführt wird, der das Urteil prägt (Urteil vom 30.07.2024 - 2 BvF 1/23).
Der Autor Prof. Dr. Thomas Wischmeyer ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Recht der Digitalisierung an der Universität Bielefeld. Er forscht auf dem Gebiet des deutschen und europäischen Verfassungs- und Verwaltungsrechts.