Eine Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer ist nicht dadurch ausgeschlossen, dass eine Frau 45 Klagen an einem Gericht erhoben hat – zuzüglich weiterer Verfahren. Das hat das BSG am Donnerstag entschieden. Auch sei ihr nicht zuzurechnen, dass ihre Bevollmächtigte dort für andere Mandanten währenddessen 667 Prozesse geführt hat.
Zwei Asylbewerberinnen hatten im April 2014 vor dem SG Darmstadt auf Grundsicherung für Arbeitsuchende geklagt. Das Verfahren endete im Oktober 2018 mit einem Gerichtsbescheid. Über die anschließende Berufung entschied das LSG Hessen im April 2021. Die beiden erhoben keine Nichtzulassungsbeschwerde; das Urteil wurde rechtskräftig. Daraufhin forderten sie vom Land Hessen eine Entschädigung von mindestens 2.400 Euro wegen überlanger Dauer des Prozesses in der ersten Instanz. Das LSG verwehrte ihnen jedoch eine Geldzahlung: Als Wiedergutmachung könnten sie nur eine Feststellung des Missstands verlangen. Denn das Ausgangsverfahren habe zwar unangemessen lang gedauert – und das um ganze 29 Monate zu viel. Doch habe es für die Kläger nur geringe Bedeutung gehabt; unterm Strich sei es bloß um 308 Euro gegangen. Auch habe sich die Prozessbevollmächtigte nach Erhebung einer Verzögerungsrüge erst wieder zweieinhalb Jahre später gemeldet. Und schließlich seien die beiden "Vielklägerinnen", die die Arbeitskraft des Sozialgerichts in erheblichem Maße gebunden hätten. Ihre Rechtsvertreterin habe in jenen vier Jahren in Darmstadt sogar insgesamt 667 Verfahren anhängig gemacht.
"Überdurchschnittliche Bedeutung für Betroffene"
Das ließ das Bundessozialgericht nun aber nicht gelten (BSG, Urteil vom 26.10.2023 – B 10 ÜG 1/22 R). Um über den geltend gemachten Anspruch der Klägerinnen auf eine Entschädigungszahlung abschließend entscheiden zu können, fehlen aus seiner Sicht Feststellungen des Entschädigungsgerichts zum Ablauf des Berufungsverfahrens sowie zur Bedeutung und Schwierigkeit des Ausgangsverfahrens. Das LSG muss insbesondere noch prüfen, ob der von der Vorinstanz angenommene Umfang der Verzögerung wirklich zutrifft. Auf dessen rechtsfehlerfreie Feststellung könne nicht deshalb verzichtet werden, weil die beiden Frauen aus anderen Gründen bereits keinen Anspruch auf eine Geldentschädigung hätten. "Denn sie haben sich im Ausgangsverfahren gegen die Aufhebung existenzsichernder Leistungen gewandt, die regelmäßig eine überdurchschnittliche Bedeutung für die Betroffenen haben", schreiben die Kasseler Bundesrichter in einer Mitteilung.
Ob dies zutreffe, könne aus ihrer Sicht nicht beurteilt werden. Tatsächliche Anhaltspunkte für eine Haltung des "Dulde und Liquidiere" der Klägerinnen habe das Entschädigungsgericht nicht festgestellt, so die obersten Sozialrichter. Sie hätten vielmehr eine wirksame Verzögerungsrüge erhoben und wiederholt um eine Terminierung des Ausgangsverfahrens gebeten. "Im Übrigen waren sie nicht verpflichtet, aktiv darauf hinzuwirken, dass das SG das Verfahren in angemessener Zeit zum Abschluss bringt."
Kein Malus für Vielklagerei
Soweit die Klägerinnen eine Vielzahl von Klagen in Darmstadt anhängig gemacht haben, können daraus aus Kasseler Sicht – isoliert betrachtet – lediglich eine erschwerte Verfahrensführung und gesteigerte Komplexität des
Verfahrens resultieren. "Diese Kriterien können bei der Beurteilung der Schwierigkeit des Ausgangsverfahrens Berücksichtigung finden." Und das Prozessverhalten ihrer Bevollmächtigten in sie nicht betreffenden anderen Verfahren müssten sich die beiden nicht zurechnen lassen.
In einem Punkt verwarf das BSG aber die Revision bereits. Dem dritten Kläger – offenbar ein Sohn einer der beiden Frauen – stehe keine Geldentschädigung zu, weil er von dem vor seiner Geburt ergangenen SGB II-Aufhebungsbescheid nicht betroffen gewesen sei (Urt. v. 26.10.2023 - B 10 ÜG 1/22 R).
Aus der Datenbank beck-online
Schenke, Rechtsschutz bei überlanger Dauer verwaltungsgerichtlicher Verfahren, NVwZ 2012, 257
Stotz, Die Entschädigung nach § 198 GVG wegen überlanger Verfahrensdauer – Pyrrhussieg für Bezieher von SGB II-Leistungen?, NZS 2015, 410