Die Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, damit die Strafe im Wohnsitzmitgliedstaat vollstreckt wird, muss auch für Drittstaatsangehörige gelten. Es sei zu prüfen, ob der Drittstaatsangehörige hinreichend im Vollstreckungsmitgliedstaat integriert sei und ob somit ein berechtigtes Interesse daran bestehe, dass die im Ausstellungsmitgliedstaat verhängte Strafe im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsmitgliedstaats vollstreckt wird, so der Gerichtshof der Europäischen Union.
Streit um Vollstreckung rumänischen EU-Haftbefehls für Moldauer in Italien
Im Ausgangsfall geht es um einen in Italien lebenden moldauischen Staatsangehörigen, für den in Rumänien ein EU-Haftbefehl zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ausgestellt wurde. Da das italienische Recht anders als bei Unionsbürgern - auch bei bestehenden Bindungen zu Italien – keine Möglichkeit vorsieht, die Auslieferung Drittstaatsangehöriger zu verhindern, ersuchte das mit dem Fall befasste Berufungsgericht den Europäischen Gerichtshof um Prüfung der Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht.
EuGH beanstandet italienischen Umgang mit Drittstaatsangehörigen
Der Gerichtshof hat nunmehr entschieden, dass Drittstaatsangehörige genauso behandelt werden müssen wie Unionsbürger. Es sei unionsrechtswidrig, im Unionsgebiet lebende Drittstaatler absolut und automatisch von der Anwendung des fakultativen Grundes für die Nichtvollstreckung des EU-Haftbefehls auszuschließen, ohne dass die vollstreckende Justizbehörde die Bindungen des Drittstaatsangehörigen zum Mitgliedstaat beurteilen könne.
Bindungen an den Aufenthaltsstaat zu berücksichtigen
Eine solche nationale Regelung widerspreche dem in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerten Grundsatz der Gleichbehandlung, da sie die Angehörigen des ersuchten Mitgliedstaats und die anderen Unionsbürger einerseits und die Drittstaatsangehörigen andererseits unterschiedlich behandele, ohne den Umstand zu berücksichtigen, dass auch Letztere ein hinreichendes Maß an Integration innerhalb der Gesellschaft dieses Mitgliedstaats aufweisen können, das es rechtfertige, die im Ausstellungsmitgliedstaat verhängte Strafe im ersuchten Mitgliedstaat zu vollstrecken.
Strafe muss nach innerstaatlichem Recht vollstreckt werden
Die Nichtvollstreckung des Haftbefehls komme aber nur in Frage, wenn sich die gesuchte Person im Vollstreckungsmitgliedstaat gefestigt aufhalte und sich der Aufenthaltssaat verpflichte, die Strafe nach innerstaatlichem Recht zu vollstrecken. Im Übrigen müsse auch noch ein berechtigtes Interesse daran bestehen, die im Ausstellungsmitgliedstaat verhängte Strafe im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsmitgliedstaats zu vollstrecken. Dabei könne das mit dem Rahmenbeschluss über den EU-Haftbefehl verfolgte Ziel berücksichtigt werden, die Resozialisierungschancen der gesuchten Person nach Verbüßung der gegen sie verhängten Strafe zu erhöhen (Urt. v. 06.06.2023 - C-700/21).
Weiterführende Links
Aus der Datenbank beck-online
- Generalanwalt beim EuGH, Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen, BeckRS 2022, 36119 (Vorverfahren)
- EuGH, Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen - Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, BeckRS 2020, 3201
- EuGH, Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen, BeckRS 2016, 82663