Die Einreichung eines Vorabentscheidungsersuchens beim Europäischen Gerichtshof hindert das vorlegende Gericht nicht daran, das Ausgangsverfahren teilweise fortzusetzen. Dies hat der EuGH in einem am Mittwoch ergangenen Urteil klargestellt. Das vorlegende Gericht darf demnach weiterhin Verfahrenshandlungen – etwa zur Beweiserhebung – vornehmen, die es für erforderlich hält und die es nicht daran hindern, später der Antwort des EuGH nachzukommen.
Bulgarisches Gericht befragte EuGH im Rahmen eines Strafverfahrens
Die bulgarische Staatsanwaltschaft warf zwei Ermittlungsbeamten der Polizei Korruption vor. Einer der beiden Beamten beanstandete die von der Staatsanwaltschaft vorgenommene rechtliche Einordnung. Das mit dem Strafverfahren befasste bulgarische Gericht wollte wissen, ob es zu einer Neubewertung der fraglichen Straftat befugt sei, ohne zuvor die beschuldigte Person darüber zu informieren. Insoweit befasste es den Gerichtshof mit einem (ersten) Vorabentscheidungsersuchen. Dieses Ersuchen ist Gegenstand einer anderen Rechtssache, die noch beim Gerichtshof anhängig ist.
Muss das gesamte Verfahren ausgesetzt werden?
Das bulgarische Gericht möchte außerdem wissen, ob es das Verfahren insgesamt aussetzen muss, bis es die Antwort des EuGH erhält, oder ob es die Rechtssache weiterhin prüfen und insbesondere Beweise erheben darf, wobei es selbstredend nicht in der Sache entscheide, solange es auf diese Antwort warte. Um diese Frage zu klären, befasste es den EuGH mit einem zweiten Vorabentscheidungsersuchen.
Unionsrecht verbietet teilweise Weiterführung nicht
Nach dem Urteil des EuGH verbietet es das Unionsrecht einem nationalen Gericht, das ein Vorabentscheidungsersuchen eingereicht hat, nicht, das Ausgangsverfahren nur insoweit auszusetzen, als dieses Aspekte betrifft, auf die sich die Beantwortung dieses Ersuchens durch den Gerichtshof auswirken kann.
Aspekte ohne Bezug zu Vorlagefragen unproblematisch
Die Wahrung der praktischen Wirksamkeit dieses Vorabentscheidungsverfahrens werde in der Praxis nicht unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert durch eine nationale Regelung, nach der das Ausgangsverfahren zwischen dem Tag der Einreichung des Vorabentscheidungsersuchens und dem Tag der Beantwortung desselben durch den Gerichtshof fortgesetzt werden darf, um bestimmte Verfahrenshandlungen vorzunehmen. Bei diesen gehe es um Handlungen, die das vorlegende Gericht für erforderlich hält und die Aspekte ohne Bezug zu den Vorlagefragen betreffen, nämlich Verfahrenshandlungen, die das vorlegende Gericht nicht daran hinderten, im Rahmen des Ausgangsverfahrens der Antwort des Gerichtshofs nachzukommen.
Fortsetzung des Verfahrens muss Gericht freistehen
Da ein Vorabentscheidungsersuchen auch in einem frühen Stadium des Ausgangsverfahrens an den EuGH gerichtet werden kann, müsse es dem vorlegenden Gericht daher freistehen, dieses Verfahren mit Verfahrenshandlungen der genannten Art fortzusetzen, solange es auf die Antwort des Gerichtshofs wartet, betonte der EuGH (Urt. v. 17.05.2023 - C-176/22).
Weiterführende Links
Aus der Datenbank beck-online
- Kokott, Reformen der Europäischen Gerichtsverfassung, ZEuP 2023, 1