Dänemark bringt vielleicht die Mindestlohnrichtlinie zu Fall, in Deutschland wirbt die CDU für Rügen gegen Kompetenzüberschreitungen aus Brüssel: Folgt auf die politische Kritik nun auch eine rechtliche Gegenbewegung? Und könnte sie der EU vielleicht sogar nützen?
Es ist ja nicht nur Viktor Orbán. Pfeile gen Brüssel hat in den vergangenen Jahren bekanntlich auch die europakritische Georgia Meloni abgeschossen, ebenso der Rassemblement National in Frankreich und diverse Parteien in Deutschland – allesamt sind Kernländer und wichtige Stützen der EU. Die Beschwerden über Regulierung, Übergriffigkeit und zu viel "Brüssel" sind nicht neu. Was jedoch neu ist, sind rechtliche Anstrengungen der Mitgliedstaaten, die EU in ihren Kompetenzen einzuhegen. Das hat eine andere Qualität als politische Statements, weil es handfeste Konsequenzen mit sich bringen kann.
So etwa im Fall der gegenwärtig vor dem EuGH verhandelten europäischen Mindestlohn-Richtlinie, die von Dänemark und Schweden mit einer Nichtigkeitsklage angefochten wird. Streitpunkt ist dabei Art. 153 Abs. 5 AEUV, der europäische Regelungen zum Arbeitsentgelt ausschließe, wie die Skandinavier argumentieren. Genau das aber sei Thema der Richtlinie. Dass Generalanwalt Emiliou sich in seinen Schlussanträgen der dänischen Auffassung angeschlossen hat, zeigt, dass dieser Einwand nicht ohne Substanz ist.
Und nun treten CDU und CSU in ihrem Wahlprogramm zur anstehenden Bundestagswahl für ein "Europa, das Prioritäten setzt" und weniger Regulierung aus Brüssel ein. Unter anderem wollen sie dazu "das Instrument der Subsidiaritätsrüge weiterentwickeln und zugleich vereinfachen".
Rügemöglichkeit bislang kaum genutzt
Die Subsidiaritätsrüge wurde durch den EU-Reformvertrag von Lissabon 2009 ins Europarecht aufgenommen. Mit ihr können die nationalen Parlamente bereits in laufenden EU-Gesetzgebungsverfahren intervenieren, wenn sie der Meinung sind, dass das Subsidiaritätsprinzip verletzt werde. Dieses ist in Art. 5 Abs. 3 EUV verankert. Danach sind die Mitgliedstaaten primär für ihre nationalen Angelegenheiten zuständig, die Union darf demnach nur tätig werden, wenn die Ziele im nationalstaatlichen Rahmen nicht ausreichend verwirklicht werden können. Die Gesetzgebungsorgane der Union müssen eine Subsidiaritätsrüge berücksichtigen und, sofern ein Drittel der Gesamtzahl der den nationalen Parlamenten zugewiesenen Stimmen sie erhebt, den Gesetzentwurf noch einmal einer Prüfung unterziehen. Daneben können die Mitgliedstaaten wegen einer Verletzung des Subsidiaritätsprinzips nach Art. 8 des Subsidiaritätsprotokolls auch eine Klage vor dem EuGH anstrengen.
Gebrauch gemacht wurde von diesen Möglichkeiten bisher in allen Mitgliedstaaten jedoch eher selten – wohl auch, weil es aufwändig ist und sich die Parlamente dazu frühzeitig mit den Gesetzgebungsverfahren in Brüssel befassen müssen. Wenngleich es prominente Beispiele bei kontroversen Gesetzesvorhaben gibt, wie etwa der DS-GVO oder der Verordnung über die Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft, spielten die Subsidiaritätsrüge bzw. entsprechende Klagen bislang kaum eine Rolle.
Subsidiaritätsrügen "nur in Sonntagsreden"
Gerät nun mit der Klage gegen die Mindestlohn-Richtlinie und den Unions-Versprechen, mehr zu rügen, vielleicht etwas in Bewegung? "Ich würde in der Tat denken, dass man das in diese größeren Zusammenhänge hineinlesen muss", erklärte Martin Nettesheim, Inhaber des Lehrstuhls für Staats- und Verwaltungsrecht, Europarecht und Völkerrecht an der Universität Tübingen, kürzlich im Gespräch mit Hendrik Wieduwilt bei Gerechtigkeit & Loseblatt, dem Podcast von NJW und beck-aktuell. Auch in Luxemburg würden inzwischen womöglich manche "darüber nachdenken, wie man Europa wirklich zukunftsfest machen kann und ob es wirklich sinnvoll ist, wenn man in diesen Bereichen, wo es um hochgradig partikulare Fragen geht (…), so einen technokratischen Rahmen festlegen will".
Für Nettesheim basieren die Schlussanträge von Generalanwalt Emiliou auf der Idee, "dass mitgliedstaatliche Schutzräume auch wirklich ernst zu nehmen sind, dass man diesen ‚Competence Creep‘, den wir auf so vielen Ebenen und in so vielen Bereichen beobachten, jedenfalls in diesem Bereich nicht einfach fortsetzen sollte". Es sei "eine Entscheidung, die an einem kleinen Punkt die große Frage aufwirft, wie man eigentlich mit dem Vertrag umgeht und ob dieser ‚Competence Creep‘ wirklich eine angemessene Form der Weiterentwicklung der Europäischen Union ist", erklärt Nettesheim. Unter dem Begriff "Competence Creep" versteht man ein schleichendes Umsichgreifen Brüssels in Kompetenzbereiche, die der EU nicht zugewiesen sind.
In die gleiche Kerbe schlägt auch Christian Calliess, der an der FU Berlin unter anderem Europarecht lehrt. Er hält die Kompetenzüberschreitung in Sachen Mindestlohn für "so evident und sensibel", dass er sich frage: "Warum wird Deutschland nicht aktiv?". "Ich höre andauernd die Klagen, dass Brüssel die Kompetenzen überdehne", so Calliess, doch Subsidiaritätsrügen seien von den Politikerinnen und Politikern der jeweiligen Regierungsparteien in der Vergangenheit praktisch nie unterstützt worden. Für ihn ist es das "Dilemma der Subsidiaritätsrüge", dass die Regierungsparteien stets aus politischen Gründen davon Abstand nähmen – schließlich verhandele man ja die europäischen Lösungen mit, bspw. im Rat der EU.
Dabei hat die Kommission selbst noch unter Präsident Jean-Claude Juncker ein Weißbuch zur Zukunft Europas erstellt und eine Taskforce eingesetzt, die im Juli 2018 ihren Bericht "Active Subsidiarity" vorlegte. Sie regte darin an, sich künftig stärker an den Prinzipien der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit zu orientieren. Hierzu schlug die Taskforce ein gemeinsames Prüfraster vor, das bei künftigen Gesetzgebungsvorschlägen auf allen Ebenen angewandt werden sollte. In Deutschland sei das aber kaum aufgegriffen worden, meint Calliess. "In Sonntagsreden wird immer betont, dass die Kommission ihre Kompetenzen überschreite, doch im Alltag, wenn Entscheidungen getroffen werden, ist niemand mehr da, der sich darauf beruft", mahnt er.
Können Rügen Vertrauen schaffen?
Sind solche Instrumente, um gegen mutmaßliche Brüsseler Übergriffigkeit vorzugehen, nicht aber auch ein willkommenes Instrument für antieuropäischen Populismus? Könnte nicht in Zukunft die AfD aus einer starken Opposition heraus EU-Gesetzgebung sabotieren? Schließlich ist die Subsidiaritätsklage in Deutschland – wie z. B. auch in Frankreich – als Minderheitenrecht ausgestaltet, ein Viertel der Stimmen im Bundestag reicht aus, um sie zu erheben. Calliess sieht darin jedoch keine Gefahr, für ihn wäre es sogar wünschenswert, wenn von der Subsidiaritätsrüge stärker Gebrauch gemacht würde und so der EU zu mehr Legitimität verholfen wäre. "Ich habe den EuGH immer auch als Kompetenzgericht verstanden", betont er. Dass er diesbezüglich bislang kaum aktiv geworden sei, liege auch daran, dass die rechtlichen Instrumente zu selten genutzt würden. "Ich glaube, dass die Kompetenzfrage ernster genommen werden muss. Das würde Vertrauen schaffen und der Kritik an der EU den Wind aus den Segeln nehmen."
Dass rechtliches Vorgehen gegen EU-Gesetzgebung der Akzeptanz schaden und Populismus den Boden bereiten könnte, glaubt er indes nicht. Stattdessen könne es dem "Brüssel-Bashing", mit dem Politikerinnen und Politiker gerne die Schuld für Missstände und missliebige Regulierung von sich wiesen, sogar vorbeugen. Nettesheim stimmt dem zu: "Dass man Europa-Bashing weiter betreiben kann, scheint zwar denkbar. Aber dann könnte man entgegenhalten, dass – gerade, wenn die Entscheidung des EuGH entsprechend ausgeht – die Europäer selbst erkannt haben, dass es so nicht weitergeht. Vielleicht federt das den Populismus eher ab."
Zudem, so Calliess, bringe die gegenwärtige Lage auch das BVerfG in eine brenzlige Situation, wenn es Ultra-Vires-Akten – wie im Fall des berühmt-berüchtigten PSPP-Urteils – selbst eine Absage erteilen müsse. Würden die Mitgliedstaaten der EU bei Rechtsetzungsakten frühzeitig Kompetenz-Bedenken anmelden und diese im Zweifelsfall auch zum EuGH tragen, könnte das auch das BVerfG aus dieser schwierigen Rolle befreien, meint er.
Gleichzeitig kann man die Frage stellen, ob den Beschwerden über zu viel Brüsseler Regulierung nicht ohnehin die Substanz fehlt. Das vermutet jedenfalls Franz C. Mayer, Staats- und Europarechtslehrer von der Universität Bielefeld. Es gebe "kein Defizit an Kompetenzhütern" in der EU, meint Mayer im beck-aktuell-Gespräch. Er glaubt, das Bewusstsein für die Subsidiarität sei "tief eingedrungen" in die Arbeitsweise der Kommission, weshalb man dort sehr darauf bedacht sei, die eigenen Kompetenzen nicht zu überdehnen. Dass dies vielfach anders dargestellt wird, führt eher auf politische Ausweichmanöver zurück.
Tut sich nun etwas?
Calliess hat indes wenig Hoffnung, dass sich die Mitgliedstaaten und vor allem Deutschland in dieser Hinsicht bald mehr engagieren könnten: "Ich halte seit Jahren Vorträge vor politischen Entscheidungsträgern und ernte mit meinen Forderungen meist Zustimmung. Aber im politischen Alltag werden sie dann nie umgesetzt", beklagt der Staatsrechtler. So sehe er es zwar "sehr positiv, dass der Generalanwalt bei der Mindestlohn-Richtlinie so deutlich geworden ist". Doch fehle ihm der Glaube, dass dies eine größere Entwicklung befördern könnte.
Dass die CDU in ihrem Wahlprogramm nun eine Stärkung der Subsidiaritätsrüge fordert, begrüßt Calliess daher, auch wenn er vor dem Hintergrund der bisherigen Erfahrungen nicht so recht an den Erfolg in der politischen Praxis glaubt. Der Bundestag habe bereits die Mittel, um frühzeitig Brüsseler Vorhaben unter die Lupe zu nehmen und zu rügen. Wichtig sei vielmehr, entsprechende Rügen rechtlich zu begründen und nicht politisch. Dann könne man auch den EuGH überzeugen.
Ob die Rügen und möglicherweise Klagen nun wirklich zunehmen werden, vermag auch Nettesheim nicht zu prognostizieren, gibt sich aber optimistischer. Durch die Anstrengungen von Dänemark und Schweden sowie das Vorhaben der Unionsparteien in Deutschland könnte seiner Ansicht nach eine Sensibilität geweckt werden, "dass man die Kompetenzgrenzen der Europäischen Union vielleicht doch ernster nehmen sollte, als es in der Vergangenheit in den verschiedenen Bereichen der Fall war".