Rechtsanwalt Dr. Christian Richter, Hamburg
8/2023
Bundesminister der Verteidigung Boris Pistorius hat die Aussetzung der Wehrpflicht als Fehler bezeichnet und eine Diskussion über deren Wiedereinsetzung ausgelöst. Gleichzeitig wird auch über eine allgemeine Dienstplicht debattiert, die auf die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts abzielt. Beide Konzepte werden in der gegenwärtigen Diskussion unzulässigerweise vermengt. Gelten für beide doch jeweils eigene verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen.
Eine allgemeine Dienstpflicht wäre ein verfassungsrechtliches Novum und auch international ein Unikat. Sie schränkt nicht nur die Berufsfreiheit ein, vielmehr widerspricht sie überdies dem in Art. 12 II GG statuierten Verbot der Zwangsarbeit. Unter die Ausnahme der „herkömmlichen allgemeinen, für alle gleichen öffentlichen Dienstleistungspflicht“ kann eine allgemeine Dienstpflicht nicht subsumiert werden. Ihr fehlt das Attribut „herkömmlich“. Der historische Verfassungsgeber wollte mit diesem eine Neuauflage des Reichsarbeitsdienstes aus der Zeit des Nationalsozialismus verhindern. Das BVerfG versteht unter den herkömmlichen Dienstleistungspflichten vor allem Deichhilfe- und Feuerwehrpflichten (s. etwa BVerfGE 13, 167 = NJW 1961, 2155). Somit wäre eine Grundgesetzänderung erforderlich. Gangbar wäre die Einfügung eines neuen Art. 12 II 2 GG, der die Verpflichtung Volljähriger zu einem allgemeinen Dienstpflichtjahr erlaubt und eine nähere Regelung durch Bundesgesetz vorsieht. So könnte die historische Barriere gegen einen Reichsarbeitsdienst im Grundgesetz belassen werden. Ein allgemeiner Pflichtdienst wäre auch völkerrechtsgemäß ausgestaltbar. Das Arbeitszwangsverbot aus Art. 4 II EMRK steht dem nicht entgegen. Eine Allgemeine Dienstpflicht im allgemeinen Interesse, zur Stärkung gesellschaftlicher Solidarität kann als Bestandteil normaler Bürgerpflichten verstanden werden und so nach Art. 4 III lit. d EMRK konventionskonform sein. Ähnliches gilt für den Art. 8 III lit. a IPbpR.
Eine Wiedereinsetzung der allgemeinen Wehrplicht würde sich dagegen deutlich anders gestalten. Seit der recht überraschenden Aussetzung im Jahr 2011 statuiert § 2 Wehrpflichtgesetz, dass die Vorschriften des Wehrpflichtgesetzes nur im Spannungs- oder Verteidigungsfall gelten. Bei einem bewaffneten Angriff oder einem unmittelbar bevorstehenden bewaffneten Angriff auf das Bundesgebiet ist der Verteidigungsfall gegeben. Der Spannungsfall ist nach einer weiten, vorzugswürdigen, aber nicht herrschenden Auffassung bereits in einer Zeit erhöhter internationaler Spannung gegeben, die eine erhöhte Verteidigungsbereitschaft erfordert– was derzeit in Europa wohl kaum zu verneinen ist. Mit der Feststellung des Spannungsfalls nach Art. 80a GG könnte die Wehrpflicht demnach durch eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag ohne gesetzgeberisches Zutun bereits heute wiedereingesetzt werden. Davon losgelöst steht dem Gesetzgeber nach der Rechtsprechung des BVerfG ein weiter Beurteilungsspielraum zu, die Wehrpflicht ohne das Erfordernis einer besonderen sicherheitspolitischen Situation gesetzlich anzuordnen. Eine allgemeine Dienstpflicht hingegen kann mit der gegenwärtigen sicherheitspolitischen Situation nur höchst mittelbar gerechtfertigt werden.