Dr. Oliver Vettermann, Karlsruhe
6/2023
„Art. 20a GG verpflichtet den Staat zum Klimaschutz. Dies zielt auch auf die Herstellung von Klimaneutralität.“ – Diese Losung und der Klimaschutz-Beschluss des BVerfG (NVwZ 2021, 951) liegen nun schon zwei Jahre zurück. Innerhalb dieser zwei Jahre wurden auf kommunaler und Bundesebene mehrere Vorhaben für eine klimagerechte Mobilität auf den Weg gebracht. Vor allem unter Verkehrsminister Volker Wissing ist laut Verkehrssicherheitsstrategie 2021–2030 neben einem „Abbiege-Assi“ und einer Radverkehrsoffensive auch eine Novelle der StVO geplant: „Eine StVO-Novelle, die die Schwächeren schützt, insbesondere Fußgänger und Radfahrer.“ Unabhängig davon wies das sog. 9-Euro-Ticket den Weg in eine neue Mobilitätswelt. Kommunal ergaben sich Radentscheide u. a. in Aachen, (nunmehr eingestellte) Verkehrsversuche für eine autofreiere Innenstadt in Berlin und zahlreiche Mobilitätskonzepte. Das kommunale Handeln zeichnet sich bereits jetzt – vor einer StVO-Novelle – dadurch aus, dass es den Verkehr und den Mobilitätswillen der Menschen divers und multimodal wahrnimmt. Bund und Kommune greifen perspektivisch ineinander auf dem Weg in eine klimaneutrale Zukunft des Verkehrs. Oder?
Was auf den ersten Blick souverän und geeint wirkt, täuscht. Nicht nur das Gutachten des Umweltbundesamtes zu rechtlichen Hemmnissen und Innovationen auf diesem Weg weist ausführlich im Jahr 2019 auf die wünschenswerten Änderungen hin, die das BMDV unter Wissing zu adressieren versucht. Auch der Beschluss des BVerfG belegt zwei Jahre später im Jahr 2021, dass für die Abwendung einer Schutzpflichtenverletzung gerade genügend getan wurde. Andererseits ist noch reichlich (saubere) Luft nach oben, um die gesetzten CO2-Emissionsziele zu erreichen. Diese Aufgabe übernehmen die Kommunen beinahe vorbildlich unter den engen Voraussetzungen der StVO, allem voran § 45 StVO. Die Regelung wirkt überfrachtet, mit Blick auf § 45 IX 3 StVO deutlich autozentriert. Aus der Vogelperspektive scheitern Vorhaben wie der Verkehrsversuch in der Berliner Friedrichstraße auch an dem Wechselspiel aus StVO und StVG, da Letzteres gerade die Verkehrsbeteiligten neben dem Autozentrismus als Ausnahme von der Auto-Regel einbindet. Das strategische Vorhaben Wissings, die StVO zu novellieren, zielt damit offensichtlich am Ziel vorbei; StVO und StVG müssen gemeinsam überarbeitet werden.
Für die Freiheit aller Lebewesen braucht es die Luft zum Atmen. Gehen wir mit der Natur nicht achtsam um, steigt „das Risiko schwerwiegender Freiheitseinbußen, weil damit die Zeitspanne für technische und soziale Entwicklungen knapper wird, mit deren Hilfe die Umstellung von der heute noch umfassend mit CO2-Emissionen verbundenen Lebensweise auf klimaneutrale Verhaltensweisen freiheitsschonend vollzogen werden könnte“ – so das BVerfG. Entsprechend benötigen auch die Kommunen Freiheit im Sinne von Spielraum, die besagte Luft zum Atmen zu sichern. Anderenfalls wird die Luft zum Atmen dünn und (grundrechtlich) merkliche Freiheitseinbußen drohen. Der verfassungsgerichtliche Beschluss kann das bislang fehlende gesetzgeberische Tun weder ausgleichen noch korrigieren. Vielmehr entsteht ein zunehmender Zwang zur Novelle von StVG und StVO.