Professor Dr. Bernd Grzeszick, Heidelberg
7/2023
Die Reform des Bundestagswahlrechts ist vollbracht. Nach langen Diskussionen hat die Ampel-Koalition sich dazu entschieden, am Zwei-Stimmen-System festzuhalten, aber die Verhältniswahl zu stärken, und zwar durch eine „verbundene Mehrheitsregel“. Danach sollen Mandate grundsätzlich nur vergeben werden, wenn sie durch Listenstimmen gedeckt sind. Die Wahl im Wahlkreis wird zu einem Änderungsmodus der Listenplatzierung: Die Wahlkreissieger werden bei der Sitzzuteilung vorab bedient, und zwar in der Reihenfolge der Größe ihrer relativen Mehrheit. In einer Überhangsituation führt dies dazu, dass die Wahlkreissieger mit den kleinsten Mehrheiten kein Mandat erhalten und deren Wahlkreis verwaist bleibt.
Die „verbundene Mehrheitsregel“ hat Vor- und Nachteile. Zwar wird damit erreicht, dass der Bundestag die nun festgelegte Hausgröße von 630 Sitzen nicht überschreitet. Allerdings wird die Wahl im Wahlkreis in der Bedeutung generell abgewertet und zudem in Kauf genommen, dass in einigen Wahlkreisen der Sieger nicht in den Bundestag einzieht. Ob die verbundene Mehrheitsregel legitimatorisch sinnvoll ist und den aus der Gleichheit der Wahl folgenden Anforderungen eines kohärent ausgestalteten Wahlrechts genügt, ist deshalb Gegenstand einer bereits länger geführten Debatte.
Die letzte Woche vor der Abstimmung brachte dann eine Überraschung. Wenige Tage vor der Verabschiedung wurde die Reform wesentlich verändert. Die Grundmandatsklausel, nach der Parteien auch mit weniger als 5% der Zweitstimmen in den Bundestag einziehen, wenn ihre Kandidaten in mindestens drei Wahlkreisen einen Sitz erringen, wurde ersatzlos gestrichen. Diese Wendung hat ganz erhebliche Folgen. Der Wegfall der Grundmandatsklausel bei Beibehaltung der 5%-Sperrklausel führt dazu, dass Die Linke und die CSU in der parlamentarischen Existenz bedroht werden und nach der nächsten Wahl die bayerischen Wähler im Bundestag massiv unterrepräsentiert sein können. Mit diesem Schritt wird die Reform zum einen verfassungsrechtlich hochproblematisch, denn eine in ihrer ausschließenden Wirkung derart verstärkte 5%-Klausel ist schwerlich zu rechtfertigen. Weder war bislang eine übermäßige Zersplitterung des Bundestags zu beobachten, noch haben die Ampel-Fraktionen in der Gesetzesbegründung hinreichend reflektiert, dass möglicherweise mildere Gestaltungen zur Verfügung stehen: Eine Herabsetzung der Höhe der Sperrklausel oder eine Föderalisierung der Sperrklausel, indem sie auf die Landeslisten bezogen wird. Allein die Zulassung von Listenverbindungen dürfte dagegen nicht genügen, da dadurch die Eigenständigkeit der Parteien erheblich gestört wird.
Die ersatzlose Streichung der Grundmandatsklausel ist zum anderen verfassungspolitisch brisant. Das Wahlgesetz kann trotz seines Charakters als Wettbewerbsordnung der parlamentarischen Politik mit einfacher Mehrheit und damit ohne umfassenderen Konsens geändert werden, was in der Vergangenheit auch bereits geschehen ist. Je stärker eine Änderung sich politisch selektiv zu Lasten einzelner Parteien auswirkt, desto größer wird aber die Gefahr, dass das Wahlgesetz als machtpolitisches Instrument der Herrschaftssicherung der Mehrheit angesehen wird. Der Diskurs über das Wahlrecht wird weiter polarisiert, der Grundkonsens über die Wahl als Legitimationsgrundlage des Parlaments gerät in Gefahr. Das ist die falsche Richtung.