Schon ohne das Material des Verfassungsschutzes halten 17 Staatsrechtler die AfD für verfassungswidrig. In einem Schreiben an den Rechts- und den Innenausschuss des Bundestags erklären sie es gar für "verfassungsrechtspolitisch" geboten, ein Verbotsverfahren einzuleiten.
Zwölf Seiten ist die "Rechtswissenschaftliche Stellungnahme zu einem Parteiverbotsverfahren gegen die AfD" lang, die 17 Staatsrechtslehrerinnen und -lehrer am Mittwoch an den Innen- und den Rechtsausschuss des Bundestags gerichtet haben. Schon ohne die Materialsammlung des Bundesamts für Verfassungsschutz halten sie auf der Grundlage von öffentlichen Äußerungen von Mandatsträgerinnen und -trägern eine belastbare Einschätzung der Erfolgsaussichten eines Parteiverbotsverfahrens für möglich: "Die AfD ist danach nachgerade der prototypische Fall einer Partei, durch die die spezifischen Mechanismen der grundgesetzlichen wehrhaften Demokratie aktiviert werden sollten", schreiben die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen.
Von Kiel bis Würzburg, von Köln bis München haben sich Verfassungsrechtlerinnen und Verfassungsrechtler an der Stellungnahme beteiligt. Andreas von Arnauld gehört ebenso zu den Unterzeichnenden wie Kathrin Groh, Stefan Huster und Stephan Rixen. Auch Emanuel V. Towfigh, Anna Katharina Mangold, Antje von Ungern-Sternberg und Fabian Wittreck sind mit von der Partie. Ihre Stellungnahme beruht nicht auf einem Gutachtenauftrag, sondern erfolgte eigeninitiativ. Sie stützt sich auf 19 Seiten gesammelter Äußerungen aus der AfD und ihrem Umfeld, die sie der Stellungnahme angehängt haben.
Mildere Mittel wie den Antrag auf ein Verbot nur einzelner Landesverbände oder einen Ausschluss von der Parteienfinanzierung halten die Wissenschaftler allenfalls als subsidiäre Hilfskonstrukte zu einem Verbotsantrag für sinnvoll.
"Die AfD ist verfassungswidrig"
Die AfD sei darauf aus, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen, heißt es im Papier, Art. 21 Abs. 2 GG subsumierend. Aus der angenommenen Erfolgsaussicht ("Demnach ist die AfD verfassungswidrig.") folge nicht nur die Möglichkeit, einen Antrag zu stellen, sondern das sei gar "verfassungsrechtspolitisch" geboten.
Die Antragsberechtigten - Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung - müssten sich den grundgesetzlichen Auftrag bewusst machen, ein Parteiverbot anzustrengen, wenn das geboten erscheine, heißt es in dem Papier. So sei "zumindest verfassungsrechtspolitisch (und jenseits verwaltungsrechtlicher Kategorien wie 'Ermessen' oder 'Beurteilungsspielraum') die Anstrengung eines Parteiverbotsverfahrens auch nicht ins Belieben der Antragsberechtigten gestellt, sondern politische Aufgabe und Verantwortung".
Völkisch-nationalistische Ideologie
Auch national-konservative Positionen könnten unter dem Grundgesetz ohne Weiteres vertreten werden, heißt es dort, die Verfassung schließe Differenzierungen nach Staatsangehörigkeit nicht kategorisch aus. Doch es gebe Grenzen, und diese überschreite die AfD sowohl mit ihren Zielen als auch mit Äußerungen und dem Verhalten ihrer Mitglieder.
Zum Nachweis verweisen die Verfasserinnen und Verfasser des Papiers neben den von ihnen gesammelten Äußerungen immer wieder auch auf die Urteile des VG Köln und des OVG Münster, welche die Einstufung der AfD als rechtsextremistischen Verdachtsfall bestätigt hatten.
Die Partei verfolge eine völkisch-nationalistische Ideologie und knüpfe an die kulturelle Herkunft als unveränderliches Wesensmerkmal und Teil der deutschen Identität an. Sie werte bestimmte Personengruppen ab, weil sie von der Überlegenheit des deutschen Volkes überzeugt sei. Ein wichtiger Teil ihrer Strategie sei es, medienwirksam politische Akteure und demokratische Prozesse zu delegitimieren, was sich aus dem Grundsatzprogramm ergebe, sich aber auch bei der Konstituierung des Thüringer Landtags gezeigt habe.
Mit der Kommunikationsstrategie der plausiblen Bestreitbarkeit ("plausible deniability") nutze sie die Mehrdeutigkeit der Sprache, um Menschen zu manipulieren: Doppeldeutige Aussagen würden genutzt, um empfänglichen Menschen implizit Inhalte und Ziele zu vermitteln, die man gleichzeitig anderen gegenüber – gespielt empört – zurückweise. Stelle man aber die Vielzahl von Aussagen in einen Gesamtzusammenhang, "setzt sich ihr ideologischer Kern wie ein Mosaik zusammen".
Darauf ausgehen – und das Potential dazu haben
Die Materialsammlung zeige, dass diese völkisch-nationalistische Ideologie sehr wohl von der Breite der Partei getragen werde, auf Bundes- wie auf Landesebene, heißt es in dem Papier eher knapp zur Zurechnung – einem Punkt, der in einem möglichen Verbotsverfahren sicherlich entscheidend würde. Denn es reicht gerade nicht aus, dass einzelne Mitglieder verfassungsfeindlich agieren, für ein Verbot muss das der gesamten Partei nachgewiesen werden können. Der Bundesvorstand grenze sich weder von der Ideologie noch von den Akteuren ab, heißt es dazu. Die AfD dulde verfassungsfeindliche Positionen in der Partei, wie schon die fehlende Abgrenzung gegenüber dem Thüringischen Fraktionschef Björn Höcke zeige. Sie lasse solche Akteure gewähren und mache sich ihre Positionen damit zu eigen.
Die Partei handele auch planvoll und strategisch, um ihre verfassungswidrigen Bestrebungen konkret in die Tat umzusetzen, erklären die Verfassungsrechtlerinnen und Verfassungsrechtler das Tatbestandsmerkmal des "Darauf-Ausgehens". Gewalt oder auch noch illegale Mittel brauche es dazu nach dem BVerfG gar nicht, die AfD habe aber auch Verbindungen zu gewaltbereiten und gewalttätigen Gruppen.
Detaillierter setzen sie sich mit der sogenannten Potenzialität auseinander, also der Möglichkeit, dass die Partei ihre verfassungsfeindlichen Ziele auch erreichen könnte. Die bezweifelt kaum jemand, Umfragen sehen die AfD auf Bundesebene bei etwa 20%, auf Landesebene sei sie mancherorts nachgerade eine Volkspartei geworden, heißt es in dem Papier. Das sind mehr als die aus Karlsruhe geforderten "konkreten Anhaltspunkte von Gewicht, die es zumindest möglich erscheinen lassen, dass das Handeln einer Partei erfolgreich sein kann", an denen ein Verbot der zu kleinen und irrelevanten NPD damals scheiterte.
Mildere Mittel allenfalls hilfsweise
Die im Raum stehende politische Frage, ob die AfD nicht auf der anderen Seite eher zu "groß" ist für ein Verbotsverfahren, klammern die Autorinnen und Autoren nicht aus. Eine Partei zu verbieten, die potenziell ein Fünftel der Wähler hinter sich versammeln könne, sei natürlich nicht das richtige Mittel, um rechtsextremistisches Gedankengut in der Bevölkerung zu beseitigen – das sei aber auch nicht Aufgabe eines solchen Verfahrens. Dieses sorge vielmehr dafür, dass demokratische Institutionen nicht weiterhin unterhöhlt würden, und eröffne ein Zeitfenster, das man nutzen könne und müsse, um effektiv gegen rechtsextreme Ansichten vorzugehen.
Die häufig gegen ein Verbotsverfahren angeführte lange Dauer sei kein Grund, es nicht anzustoßen – eben diese Dauer gewährleiste die rechtsstaatlichen Rahmenbedingungen des Verfahrens, beuge Willkür vor und damit auch einer Erschütterung des Demokratieempfindens der Bevölkerung.
Den Ruf nach milderen Mitteln kontern die Verfassungsrechtlerinnen und -rechtler mit rechtlichen Argumenten: Der Ausschluss von der Parteienfinanzierung (Art. 21 Abs. 3 GG) sei nur möglich, wenn die Partei die Voraussetzungen für ein Verbot erfülle, aber nicht genug Potenzial habe, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen. Das aber sei bei der AfD gerade nicht die Frage – und wenn alle Voraussetzungen plus Potenzialität vorlägen, "dann ist die Partei verfassungswidrig". Man könne den Antrag dann gar nicht mehr darauf beschränken, ihr nur den Geldhahn zuzudrehen. Die Idee, einen Verbotsantrag zunächst nur für die radikalsten Landesverbände und nicht für die ganze Bundespartei zu stellen, überzeugt den Verfasserkreis ebenfalls nicht: Auch Landesverbände seien Parteien im Sinne von § 46 Abs. 2 BVerfGG, das BVerfG könne sie als Minus mitverbieten, auch wenn der Verbotsantrag sich formal gegen die gesamte Bundespartei richte.
Nicht lieber politisch stellen?
Das Argument, die anderen politischen Parteien wollten sich mit einem Verbot unliebsamer Konkurrenz entledigen, statt die AfD "politisch zu stellen", wollen die Staatsrechtler und Staatsrechtlerinnen aus zwei Gründen nicht gelten lassen.
Für eine politische Auseinandersetzung müssten die Kontrahenten nach denselben Regeln spielen. "Das ist, bildhaft gesprochen, nicht der Fall, wenn zum Fußballspiel eine Mannschaft mit Baseballschlägern bewaffnet erscheint". Dann könne der Gegner nicht mit spielerischen Mitteln gestellt werden. Die AfD agiere im Widerspruch zu den Maximen der Verfassung und delegitimiere die Demokratie. Das führe jegliche politische Auseinandersetzung ad absurdum, heißt es. "Die Forderung, die AfD politisch zu stellen, kann nicht eingelöst werden, ist insofern unfair".
Außerdem wären es gerade nicht die Parteien, die die AfD aus dem Wettbewerb ausschließen würden, sondern das BVerfG: ein "bewährter Hüter der Verfassung" mit großem Ansehen und politischem Kapital. Mehrfach betonen die Staatsrechtler und Staatsrechtlerinnen die Karlsruher Rechtsprechung zu Parteiverboten: Sie seien ultima ratio. Doch sie seien auch eine Präventivmaßnahme nach der Maxime "Wehret den Anfängen".
"Wir sind der Auffassung, dass die AfD eine verfassungsfeindliche Partei ist, und dass ein Parteiverbotsverfahren in dieser Situation das probate Mittel ist", erklärte Mitunterzeichner Emanuel V. Towfigh die Motivation der Staatsrechtlerinnen und Staatsrechtler für die unaufgeforderte Stellungnahme gegenüber beck-aktuell. "Für die Abstimmung über den Antrag der inzwischen mehr als 113 Abgeordneten wollen wir einen wissenschaftlichen Beitrag zur Meinungsfindung der Abgeordneten leisten".
Der Bundestag wird voraussichtlich noch im Dezember über einen Antrag auf Einleitung eines AfD-Verbotsverfahrens abstimmen, den eine parteiübergreifende Gruppe um den CDU-Abgeordneten Marco Wanderwitz Mitte November eingereicht hat. Unaufgeforderte Stellungnahmen werden an die Mitglieder der adressierten Ausschüsse verteilt und erhalten im weiteren Verlauf des parlamentarischen Verfahrens eine Drucksachennummer. Ein neues Gutachten zur Einstufung der AfD, das der ehemalige Chef des Verfassungsschutzes, Thomas Haldenwang, bis zum Jahresende angekündigt hatte, soll nun doch nicht mehr veröffentlicht werden, weil das nach Ansicht des Verfassungsschutzes und des Bundesministeriums des Inneren sonst zu knapp vor den vorgezogenen Neuwahlen geschähe.