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Belästigungs-Vorwürfe am EuGH: Über Luxemburg nur der blaue Himmel?

Redaktion beck-aktuell
Ein Rich­ter am EuGH soll Ju­ra­stu­den­tin­nen be­läs­tigt haben, of­fen­bar nicht zum ers­ten Mal. Der Ge­richts­hof hat den Fall selbst un­ter­sucht – ohne Er­geb­nis. Einem neuen Ethik-Gre­mi­um für EU-In­sti­tu­tio­nen will der EuGH sich nicht an­schlie­ßen. Er be­grün­det das auch mit der Un­ab­hän­gig­keit der Jus­tiz.

Jahrelang sollen sich die Vorfälle wiederholt haben, immer wieder nach dem  gleichen Muster: Übergriffige Bemerkungen, Fragen nach Telefonnummern, mitunter auch unangemessene Berührungen. Ein Richter am EuGH soll im Rahmen von Veranstaltungen des European Law Moot Court wiederholt Jurastudentinnen sexuell belästigt haben – dies schreibt die niederländische Journalistin Lise Witteman in ihrer Recherche für das Investigativ-Portal Follow the Money (FTM). Der jüngste Vorfall soll aus dem vergangenen Jahr datieren.

Einer der angeblichen Vorfälle soll sich im März 2023 anlässlich einer Moot-Court-Veranstaltung in Luxemburg ereignet haben. Der Richter saß laut dem Bericht im Anschluss an die Veranstaltung mit einer Gruppe von Studentinnen und Studenten beim Abendessen zusammen. Später, nachdem man in eine Bar weitergezogen war, sollen die Dinge zu weit gegangen sein. Einer der Anwesenden behauptet, der Richter habe die Zimmergenossin einer der anwesenden Studentinnen gefragt: "Wie ist es, mit einer Frau wie [ihr] in einem Zimmer zu schlafen?" Der Jurist sagte FTM: "Ich war mir nicht ganz sicher, ob er es bei unangebrachten Bemerkungen belassen würde." Teilnehmerinnen und Teilnehmer früherer Wettbewerbe sagten laut den Recherchen von FTM, der betreffende Richter habe sich öfter unangemessen verhalten, vor allem während solcher After-Dinner-Partys. Auch soll er insinuiert haben, er könne Jobs am Gerichtshof arrangieren und versucht haben, mit Moot-Court-Teilnehmerinnen über Social Media in Kontakt zu treten.

Interne Untersuchung am EuGH verlief ergebnislos

FTM berichtet weiter, dass dieser Richter nicht der erste EuGH-Richter gewesen sei, über den es Beschwerden wegen angeblich anstößigen Verhaltens gegeben habe. In einem Fall soll ein slowenischer EuGH-Richter zurückgetreten sein, nachdem ihm eine sexuell gewalttätige Beziehung zu einer Untergebenen vorgeworfen wurde. Dies berichteten auch andere Medien. Auch beck-aktuell erfuhr aus gut informierten Kreisen, dass solche Vorwürfe schon früher und gegen andere Richter vorgebracht wurden – wohlgemerkt: Vorwürfe, keine Feststellungen. Im Bericht von FTM werden die echten Namen der Betroffenen und der Zeuginnen und Zeugen, die zu Wort kommen, nicht genannt. Auch die Identität des Richters bleibt im Dunkeln. Das dürfte vor allem einen Grund haben: Die Anschuldigungen konnten nie aufgeklärt werden.

Auf Anfrage von beck-aktuell antwortet die Pressestelle des EuGH: "Der Fall wurde dem Gerichtshof einige Wochen vor der Veröffentlichung des Artikels von dessen Verfasserin erstmals zur Kenntnis gebracht. Der Präsident des Gerichtshofs, Herr Koen Lenaerts, hat daraufhin unverzüglich einen Richter beauftragt, gemäß den internen Whistleblowing-Regeln eine Untersuchung durchzuführen. Dieser Richter hat verschiedene Gespräche geführt sowie anderweitig Kontakt aufgenommen, unter anderem mit der Verfasserin des Artikels." Jedoch sei es nicht möglich gewesen, Betroffene zu identifizieren und mit ihnen Kontakt aufzunehmen. "Zudem hat der in dem Artikel in Rede stehende Richter die Vorwürfe vehement zurückgewiesen. Mangels Informationen über die/von den möglichen Betroffenen konnte der Gerichtshof den Hinweisen der Verfasserin des Artikels nicht weiter nachgehen."

Der Gerichtshof betont dennoch, er verfolge in Bezug auf unangemessenes Verhalten "eine Politik der Null-Toleranz. Wie der vorliegende Fall zeigt, geht er entsprechenden Hinweisen unverzüglich aktiv nach. Das gilt selbstverständlich auch bei Korruptionsvorwürfen, ggfs. unter Einschaltung des Europäischen Amts für Betrugsbekämpfung (OLAF)."

Polnische Disziplinarkammer, US-amerikanische Korruption

Gleichwohl stellt sich die Frage, wie sinnvoll es ist, dass eine Institution ihre eigenen Mitglieder kontrolliert – insbesondere, wenn es sich um einen so kleinen Kreis handelt wie den der Richterinnen und Richter in Luxemburg. Wäre es um den Mitarbeiter einer Behörde gegangen, hätte eine übergeordnete Behörde oder eine unabhängige Disziplinarstelle die Vorwürfe untersucht. Auch gegen Richterinnen und Richter einfacher Gerichte sind Disziplinarverfahren möglich. Oberste Gerichte hingegen haben in der Regel keine Kontrollinstanz über sich – und das vielleicht aus gutem Grund. 

Dies zeigt ein Blick nach Polen, wo die PiS-Partei während ihrer Regierungszeit viel Aufwand betrieb, um die Justiz unter ihre Kontrolle zu bringen. Ein Mittel war es, eine eigenständige Disziplinarkammer einzurichten, die für Disziplinarsachen gegen Richterinnen und Richter des Obersten Gerichts zuständig war. Der EuGH beanstandete schließlich, dass die Disziplinarordnung politische Kontrolle und Druck auf die Richterinnen und Richter erlaube, und erklärte sie daher für unionsrechtswidrig.

Es ist ein wiederkehrendes Muster, dass autoritäre Regierungen versuchen, die Justiz unter ihre Kontrolle zu bringen. Eine Ethik-Aufsicht, gleich, ob gut gemeint, könnte also irgendwann als Waffe gegen den Rechtsstaat eingesetzt werden. Doch genauso leicht lässt sich argumentieren, dass sie dessen Rettung sein könnte. Auch hierfür gibt es Beispiele im Ausland: Die Richterinnen und Richter des US-Supreme-Court etwa unterliegen praktisch keiner effektiven Kontrolle – und scheinen diese Freiheit zuweilen sehr zu genießen. So ließ sich der als konservativ geltende Richter Clarence Thomas kostspielige Privatreisen und Hotelübernachtungen von einem ebenfalls konservativen Milliardär finanzieren, was Präsident Biden schließlich zu seinem Vorschlag für eine Reform des Obersten Gerichtshofs veranlasste, der unter anderem die Einführung eines durchsetzbaren Ethik-Kodex vorsah.

EuGH: im Ethik-Gremium nur Beobachter

Nicht nur sexuelle Übergriffigkeit, sondern auch Korruption sind also Motive, um Richterinnen und Richtern an den obersten Gerichten auf die Finger zu schauen. Aus diesem Grund hätte der deutsche Europaparlamentarier Daniel Freund (Grüne), der federführend ein Ethik-Gremium für EU-Institutionen ins Leben gerufen hat, das unter anderem verbindliche Standards zur Korruptionsprävention erarbeiten und überprüfen soll, gern auch die europäischen Gerichte unter dessen Aufsicht gesehen. Doch so kam es nicht. 

Das "Gremium zur Stärkung der Transparenz und der Integrität der EU-Institutionen" wurde im April dieses Jahres beschlossen, sieben Institutionen sind ihm beigetreten, darunter das Parlament, die Kommission und die Europäische Zentralbank. Nicht darunter: die europäischen Gerichte. Im Rahmen der Verhandlungen beteiligten sich diese zwar rege, wie Freund gegenüber beck-aktuell berichtet. EuGH-Präsident Koen Lenaerts beharrte aber darauf, dass man lediglich eine Beobachterrolle einnehmen wolle.

Auch in seiner Antwort auf die beck-aktuell-Anfrage teilte der Gerichtshof mit, man habe sich auf die Rolle eines Beobachters beschränkt, "um die Unabhängigkeit der Justiz zu gewährleisten." Freund indes beteuert: "Natürlich müssen Gerichte unabhängig sein." Gleichwohl zeige der Fall Thomas am amerikanischen Supreme Court, dass es eine Kontrollinstanz brauche, um Korruption effektiv zu verhindern. Vor seiner Zeit als Parlamentarier war Freund für die NGO Transparency International tätig, die sich gegen Lobbyismus und Korruption engagiert. "Das Problem war immer, dass zwar die Regeln meist nicht schlecht waren, aber einfach nicht durchgesetzt wurden", so Freund. "Die Institutionen überwachen sich bloß selbst."

"Unabhängigkeit kann nicht absolut sein"

Doch warum wollte Freund die Justiz dabeihaben? Hat er kein Vertrauen in die Selbstkontrolle des höchsten europäischen Gerichts? "Unabhängigkeit kann nicht absolut sein" argumentiert Freund, "sonst ist man keinerlei Rechenschaft schuldig." Gleichwohl brauche es Sicherheitsmechanismen, die dafür sorgten, "dass nicht eine Partei, eine Regierung die Kontrolle hat". Das von Freund konzipierte Gremium ist daher aus Repräsentantinnen und Repräsentanten aller Institutionen zusammengesetzt und muss seine Entscheidungen einstimmig treffen. Um es politisch zu steuern, müsste eine Partei also in allen Institutionen die Macht übernehmen.

Inwiefern das neue Ethik-Gremium überhaupt Fälle prüfen wird, muss sich aber erst zeigen. Der EuGH meint in seinem Statement gar, das Gremium sei nicht befugt, Einzelfälle zu untersuchen. Doch damit tut man der Behörde wohl Unrecht: Freund und die anderen Abgeordneten, die im Frühjahr die Einsetzung des Gremiums beschlossen, konnten die Institutionen davon überzeugen, dem Gremium neben der Befugnis, verbindliche Ethik-Standards zu erarbeiten, auch die Möglichkeit zur eigenständigen Kontrolle zu geben. Jedoch kann sich die Behörde nicht initiativ mit Fällen befassen. Sie ist darauf angewiesen, dass sie von den Institutionen selbst an sie herangetragen werden. Freund sagt deshalb: "Ich hätte mir mehr gewünscht."

EuGH will Ethik-Regeln "in eigene Überlegungen einbeziehen"

Ist damit ausgerechnet der EuGH, die höchste rechtsprechende Institution in der EU, selbst ein rechtsfreier Raum? Mitnichten, betont man in Luxemburg. "Die Mitglieder und ehemaligen Mitglieder des EuGH und des EuG unterliegen berufsethischen Regeln, die in den Verträgen, der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und den Verfahrensordnungen des Gerichtshofs sowie des Gerichts festgelegt sind" teilt der Gerichtshof mit. Zudem müssten sie sich an einen internen Verhaltenskodex halten, über dessen Einhaltung der Präsident wache. Verstöße können bis hin zur Amtsenthebung sanktioniert werden, wenn sie per einstimmigem Urteil der Kolleginnen und Kollegen festgestellt werden. 

Auch von wissenschaftlicher Seite erfährt diese Herangehensweise Bestätigung. So attestiert Christoph Krenn, Habilitand am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, im German Law Journal der Selbstverwaltung des EuGH eine "Reihe positiver Effekte", unter anderem "den Gerichtshof aus dem Rampenlicht der Öffentlichkeit herauszuhalten, seine richterliche Autorität gegenüber den wichtigsten Anspruchsgruppen zu stärken und seine richterliche Unabhängigkeit zu sichern." Zwar bestehe bei richterlicher Selbstverwaltung die Gefahr eines "Mangel[s] an Transparenz und Rechenschaftspflicht". Diese seien jedoch am Gerichtshof "weitgehend vermieden" worden, indem man mit dem Europäischen Parlament im Rahmen des EU-Haushaltsverfahrens eine "dialogische Rechenschaftsbeziehung" aufgebaut habe.

Auf Nachfrage, ob eine Ethik-Aufsicht für den EuGH damit überhaupt nicht denkbar wäre, antwortet der EuGH ausweichend: Man verfüge bereits über detaillierte Ethik- und Whistleblowing-Regeln, zudem solle "die Beobachterrolle des Gerichtshofs im interinstitutionellen Gremium für ethische Normen es ihm ermöglichen, die von diesem Gremium aufgestellten Regeln in seine eigenen Überlegungen einzubeziehen."

Ein kurzer Blick nach Deutschland: Auch das BVerfG hat sich im Jahr 2018 auf Betreiben des damaligen Präsidenten Andreas Voßkuhle eigene Ethik-Richtlinien gegeben, die unter anderem öffentliche Zurückhaltung, Transparenz bei Nebeneinkünften und Geschenken und den Ausschluss von Auftritten als Prozessbevollmächtigte vor dem Gericht nach dem Ausscheiden aus dem Amt vorsehen. Die Aufsicht darüber führen die Richterinnen und Richter selbst. Sanktionen bei Verstößen sind nicht vorgesehen.

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