Eine Finanzbeamtin hatte in zahlreichen Fällen für andere Steuerklärungen erstellt, teils darin falsche Angaben gemacht und die Erklärungen im Finanzamt selbst bearbeitet. Das hatte zum einen strafrechtliche Konsequenzen: Sie wurde wegen Steuerhinterziehung und Untreue rechtskräftig zu einer Bewährungsstrafe von elf Monaten verurteilt. Dabei nahm das Strafgericht gestützt auf ein fachpsychiatrisches Gutachten, das eine krankhafte seelische Störung im Sinn von § 20 StGB bejahte, eine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit (§ 21 StGB) an. Wegen der Vorfälle leitete aber auch ihr Dienstherr ein Disziplinarverfahren ein und klagte auf Aberkennung des Ruhegehalts der zwischenzeitlich wegen Dienstunfähigkeit in den Ruhestand versetzten Beamtin. Die vom Strafgericht angenommene erheblich verminderte Schuldfähigkeit hielt er nicht für gegeben.
Das VG Düsseldorf sah das nach Einholung eines Gutachtens auch so und erkannte der Beamtin das Ruhegehalt ab. Die Beamtin ging dagegen in Berufung. Das OVG Münster teilte seine Absicht mit, sich von der Feststellung im Strafurteil lösen zu wollen, dass eine krankhafte seelische Störung – als Eingangsmerkmal im Sinn von § 20 StGB – vorgelegen habe, und gab Gelegenheit zur Stellungnahme. Es verwies auf das vom VG eingeholte Gutachten, das erhebliche Zweifel an der Richtigkeit der Feststellung begründe. Das OVG erließ schließlich einen Lösungsbeschluss und wies die Berufung nach ergänzender Anhörung des Sachverständigen zurück.
OVG durfte Gutachten verwerten
Die Nichtzulassungsbeschwerde der Finanzbeamtin hatte keinen Erfolg (Beschluss vom 02.05.2024 - 2 B 37.23). Laut BVerwG durfte das OVG das vom VG eingeholte Gutachten verwerten, um seine Loslösung von der strafgerichtlichen Feststellung zu begründen. Zwar habe das VG bei Einholung und Verwertung des Gutachtens verfahrensfehlerhaft gehandelt, da es die Vorgaben für eine Loslösung von bindenden Feststellungen eines Strafurteils nicht beachtet habe: "Will sich ein Disziplinargericht nach § 56 Abs. 1 Satz 2 LDG NRW von den bindenden tatsächlichen Feststellungen eines Strafurteils lösen, weil es diese für offenkundig unrichtig hält, so hat es zunächst die Beteiligten unter Hinweis auf die beabsichtigte Lösung vorher anzuhören. Zum anderen hat es die förmliche Lösung von tatsächlichen Feststellungen des Strafurteils, die genau zu bestimmen sind, im Vorfeld des Disziplinarurteils förmlich zu beschließen und zu begründen".
Die Verfahrensfehler des VG hätten sich aber nicht in der Berufungsinstanz fortgesetzt; sie hätten dort auch nicht fortgewirkt. Das OVG habe die Vorgaben für eine Lösung von der Feststellung im Strafurteil eingehalten. Die VG-Fehler hätten auch kein Verwertungsverbot für das Gutachten im Berufungsverfahren begründet. Sie seien nicht als schwerwiegend einzustufen, die Beamtin habe nicht vorab auf die Bindungswirkung und die Erforderlichkeit eines Lösungsbeschlusses hingewiesen. In der Abwägung müssten die Interessen der Beamtin zurückstehen: "Die Verwertung des Gutachtens gewährleistet hier, dass im gerichtlichen Disziplinarverfahren nicht 'sehenden Auges' zu Unrecht ein erheblicher Milderungsgrund angenommen wird."
Ein prozessordnungswidrig eingeholtes, aber verwertbares Gutachten hat laut BVerwG auch nicht von vornherein einen geringeren Beweiswert. Es handele sich vielmehr um ein vollwertiges Gutachten, auf das sich das Gericht stützen könne. Ein weiteres Gutachten müsse das Gericht nur dann einholen, wenn das vorliegende Gutachten objektiv ungeeignet ist (Beschluss vom 02.05.2024 - 2 B 37.23).
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Aus der Datenbank beck-online
Lemke-Küch, Strafrechtliche Nachsorge – Die Bindungswirkung strafgerichtlicher Entscheidungen für die Anordnung berufsgerichtlicher, verwaltungs- oder disziplinarrechtlicher Maßnahmen, StRR 2015, 48