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Vor der Europawahl: „Es gibt kein ultimatives Instrument gegen Angriffe auf die Demokratie“

Redaktion beck-aktuell
Vor den Wah­len in den Mit­glied­staa­ten bli­cken viele be­un­ru­higt auf die wach­sen­de Zu­stim­mung für na­tio­na­lis­ti­sche und eu­ro­pa-skep­ti­sche Po­si­tio­nen. Prof. Dr. Armin von Bogdan­dy hält die eu­ro­päi­sche De­mo­kra­tie für wi­der­stands­fä­hi­ger, als viele Kri­ti­ker es ihr zu­trau­en.

beck-aktuell: Herr Professor von Bogdandy, vor wenigen Tagen haben wir in Deutschland den 75. Geburtstag des Grundgesetzes gefeiert. In diesem Zusammenhang sprechen wir häufig von Deutschland als einer resilienten oder wehrhaften Demokratie. Ist auch die EU eine solche resiliente Demokratie? 

von Bogdandy: Es ist zu früh für eine Aussage. Warten wir ab, wie sich das Europäische Parlament entwickelt, wenn die Koalition seiner pro-europäischen Fraktionen ihre starke Mehrheit verliert. Das könnte ab dem 10. Juni 2024 der Fall sein. Aber schon heute können wir feststellen, dass sich die Europäische Union immerhin als eine Demokratie herausgebildet hat; das war ihr nicht in die Wiege gelegt. Viele wollten die EU eher als eine Art Verwaltungsbehörde. Vor diesem Hintergrund sind Existenz und Lebendigkeit der europäischen Demokratie bemerkenswert.

beck-aktuell: Hat sich der Blick gewandelt?

von Bogdandy: Ja, der Blick und vor allem der politische Wille haben sich gewandelt. Die Mitgliedstaaten haben 2009 im Vertrag von Lissabon festgeschrieben, dass die Europäische Union auf den Werten der Demokratie beruht und als repräsentative Demokratie operiert. Und sie fordert von allen Mitgliedern ein, demokratisch und rechtsstaatlich zu operieren. Die EU hat heute eine Rolle für die innerstaatliche Demokratie ihrer Mitglieder. Bürgerinnen und Bürger in vielen Staaten, wenngleich weniger in Deutschland, sehen diesen Zusammenhang zwischen eigener Demokratie und EU-Mitgliedschaft. Ganz ausgeprägt ist dieses Verständnis bei der aktuellen Regierungsmehrheit in Polen.

beck-aktuell: Die EU ist kein Staat, sondern organisiert einen Zusammenschluss von Staaten. Inwieweit muss die europäische Demokratie nach einem anderen Maßstab bewertet werden?

von Bogdandy: Richtig, die Europäische Union organisiert einen Zusammenschluss von Staaten. Aber sie organisiert noch mehr: Sie ist zugleich die politische Organisation der europäischen Gesellschaft. Man verkennt die Union, wenn man sie nur als einen Staatenverbund versteht und in den Bürgerinnen und Bürgern nur Staatsangehörige sieht und so deren Unionsbürgerschaft übersieht.

Diese Union ist kein Staat, es gibt keine staatliche Einheitsbildung. Die EU spiegelt, lebt und organisiert den Pluralismus und die Diversität der europäischen Gesellschaft. Ein Homogenitätsdruck, den ein europäischer Staat ausüben würde, wäre ihrem Wesen abträglich.

Entsprechend speisen zwei Stränge die europäische Demokratie: Der erste ist das demokratische Leben um die politischen Institutionen der Mitgliedstaaten. Der zweite Strang ist das demokratische Leben auf EU-Ebene, die so organisiert ist, dass diese gewollte Diversität Raum hat. Konkret bedeutet das, dass die Unionsorgane fast immer Konsense zwischen unterschiedlichsten Positionen schmieden müssen. Das ist der wohl wichtigste Grund, warum alles so kompliziert, umständlich und langwierig ist.

"Die EU ist eine Verhandlungs- und Konsensdemokratie"

beck-aktuell: Nun stehen wir kurz vor der Neuwahl des EU-Parlaments. Ein Parlament, das dieser Tage in den Medien auch kritisiert wird – Stichworte degressive Proportionalität, fehlendes Initiativrecht, Trilog-Verfahren. Wie bewerten Sie das?

von Bogdandy: Die Kritiker des EU-Parlaments haben Recht damit, dass das Gewicht der Stimmen bei der Wahl ungleich ist. Wenn in Deutschland jemand seine Stimme abgibt, dann hat diese Stimme weniger Einfluss auf die Zusammensetzung des Parlaments, als wenn die Stimme auf Malta abgegeben würde. Da sagen viele: Das geht nicht, jede Stimme muss den gleichen Erfolgswert haben.

Dazu ist zunächst festzuhalten, dass der Unterschied im Erfolgswert demokratisch legitimiert ist: Alle Mitgliedstaaten haben dem zugestimmt, oft mit verfassungsändernder Mehrheit. Für diese Zustimmung gibt es auch einen guten demokratischen Grund: den Minderheitenschutz, also den Schutz der Menschen, die ‚kleinen‘ Völkern angehören. Um dieser Diversität innerhalb der EU im politischen Prozess Rechnung zu tragen, ist der ungleiche Erfolgswert legitim. Minderheitenschutz gehört zur Demokratie.

beck-aktuell: Also ist die Kritik nicht berechtigt?

von Bogdandy: Ich möchte nicht als Apologet der europäischen Demokratie daherkommen. Es gibt im europäischen Wahlrecht viel zu verbessern. Aber jede Verbesserung muss in einem demokratischen Prozess ausgehandelt werden. Das können naturrechtliche Theoreme nicht ersetzen. Zudem müssen sich die Kritiker fragen lassen, ob es nicht doch wichtig ist, dass die jetzige Regelung einem unzweifelhaft demokratischen Prozess entspringt.

beck-aktuell: Die Stimmverteilung ist aber nicht der einzige Kritikpunkt. Auch das europäische Gesetzgebungsverfahren wird kritisiert.

von Bogdandy: Es ist richtig, dass das Parlament kein eigenes Initiativrecht hat. Aber wie schwer wiegt dies? Auch in Deutschland kommt der ganz überwiegende Teil der Gesetzesinitiativen von der Regierung, aber niemand sagt, dass das der deutschen Demokratie schade. Wichtiger scheint mir für eine lebendige Demokratie, dass die Parlamentarier die Vielfalt der Interessen und Ideen in die Gesetze einbringen. Das geschieht in der Europäischen Union weit mehr als in den meisten Mitgliedstaaten. Der Einfluss des EU-Parlaments auf die europäische Gesetzgebung ist höher als von Kritikern oft dargestellt. Insbesondere dank der Triloge können sich die Abgeordneten in die Gesetzgebung einbringen.

Die EU ist eine Verhandlungs- und Konsensdemokratie. Weil Europa so vielfältig ist, muss die europäische Gesetzgebung ein Prozess der vielen Vermittlungen sein. Dafür hat sich das – häufig kritisierte – Trilog-Verfahren als effektives Instrument erwiesen. Es wird demokratischen Forderungen wie Transparenz in einem höheren Maße gerecht als das Auskochen von Mehrheiten in nationalen Regierungsmehrheiten.

"Der ultimative Schutz vor Angriffen auf die Demokratie ist eine wache, politisch gebildete Gesellschaft"

beck-aktuell: Bei der kommenden Wahl könnten viele Kandidaten ins Parlament einziehen, die sich nationalistisch und europaskeptisch positionieren – manche sogar antidemokratisch. Was könnten die Folgen für Europa sein?

von Bogdandy: Zunächst sollte man europaskeptischen Parteien nicht prinzipiell den Vorwurf der Demokratiefeindlichkeit machen. EU-Skepsis kann eine legitime demokratische Position sein. Antidemokratisch wird es erst, wenn man die eigene Position unter Verletzung der Werte des Art. 2 EUV durchsetzen will.

Im Übrigen beobachte ich bei einigen dieser Parteien ein Umdenken. Früher war es in der Tat so, dass das Ziel dieses Lagers war, Sand in das Getriebe der europäischen Prozesse zu streuen. Doch nun gibt es Bestrebungen, die EU im Sinne eigener Politik zu nutzen – etwa von der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni.

Sollte dieses Lager gestärkt aus den Wahlen hervorgehen, dann dürfte sich das politisch niederschlagen: Wir sind in einer Verhandlungs- und Konsensdemokratie. Das bedeutet Veränderungen zum Beispiel in der Asyl- oder Klimapolitik. Das werden viele bedauern, aber solange diese Veränderungen im demokratischen Rahmen erfolgen, ist das legitim.

beck-aktuell: Welche Schutzmechanismen kennt das EU-Recht gegen Angriffe auf die europäische Demokratie?

von Bogdandy: Es gibt eine Reihe von Schutzinstrumenten: in den Verträgen, in der Grundrechtecharta, im einfachen europäischen Recht, im Parlamentsrecht. Aber keines dieser Instrumente ist ultimativ. Der ultimative Schutz vor Angriffen auf die Demokratie ist eine wache, politisch gebildete, demokratisch orientierte europäische Gesellschaft.

beck-aktuell: Die europäische Demokratie lebt also vom Engagement der europäischen Gesellschaft. Was kennzeichnet eine Gesellschaft, die ihre demokratischen Werte – auch in Europa – erfolgreich verteidigt?

von Bogdandy: Vieles. Unter anderem eine Präsenz der EU in den gesellschaftlichen Diskursen. Diese Präsenz ist in den vergangenen Jahren gewachsen, das ist gut. Aber es bleibt die Frage, wie man die EU so vermittelt, dass Menschen begreifen, wie sie mit ihrem konkreten Leben zusammen hängt. Ich konnte eine Antwort in Litauen beobachten, wo man gerade 20 Jahre EU-Mitgliedschaft feiert. Viele Litauer schauen nach Georgien, nach Moldawien, in die Ukraine und wissen ganz konkret: Weil sie Teil der EU sind, können sie demokratische Entscheidungen treffen. Wären sie allein, würde das Russland für sie tun, oder Polen, oder Deutschland. Sie haben die konkrete Einsicht, dass ihr Wohlergehen nicht nur daran hängt, Teil des litauischen Volkes zu sein, sondern auch Teil der europäischen Gesellschaft, die über 400 Millionen Menschen zusammenbringt und über die Union politisch organisiert ist. Sie wissen, dass sie sonst Spielball anderer Interessen wären. Diese demokratisierende Leistung der Union muss in die Bewertung der europäischen Demokratie einfließen.

beck-aktuell: Vielen Dank für Ihre Zeit!

Prof. Dr. Armin von Bogdandy ist Direktor am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht und Professor für Öffentliches Recht an der Universität Frankfurt am Main. 

Die Fragen stellte Denise Dahmen.

 

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