In der Anhörung des Haushaltsausschusses am Dienstag berieten die Experten über die Zulässigkeit des Nachtragshaushalts, mit dem die Ampel-Koalition den Etat für das laufende Jahr reparieren will. Dabei ging es insbesondere um die Buchungssystematik im Lichte des Karlsruher Haushaltsurteils.
Das Finanzministerium berücksichtigt die Kredite in dem Jahr, in dem sie genehmigt wurden. Unter anderem der Bundesrechnungshof hält das mit dem Verfassungsgericht für verfassungswidrig. Es würden damit Defizite in Höhe mehrerer Milliarden Euro verschleiert. Mehrere Rechtswissenschaftler widersprachen in der Anhörung: Das Bundesverfassungsgericht habe sich ausschließlich auf Sondervermögen mit Notlagenkrediten bezogen. Die allgemeine Buchungsregel sei vom Urteil nicht betroffen.
Der Finanzwissenschaftler Thiess Büttner von der Universität Erlangen-Nürnberg etwa interpretierte den Spruch des Bundesverfassungsgerichts so, dass zur Ermittlung des Schuldenstands alle Defizite aus Sondervermögen auf den Kernhaushalt angerechnet werden müssen. Dies sei beim Nachtragshaushalt aber nicht geschehen. Büttner zufolge ist "ein zusätzliches Defizit aus Sondervermögen von 18 Milliarden Euro nicht berücksichtigt". Dagegen hob der Rechtswissenschaftler Joachim Wieland von der Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer hervor, dass sich das Karlsruher Urteil nur auf solche Sondervermögen bezogen habe, deren Kreditfinanzierung aufgrund der Erklärung einer Notlage nach der Schuldenbremsenregelung erfolgt sei. Alle somit relevanten Sondervermögen seien im Nachtragshaushalt berücksichtigt. Ministerialrat Jan Keller vom Bundesrechnungshof hingegen schloss sich zwar der Ansicht Büttners an, nannte es aber "nachträglich schwierig", alle, also auch nicht notstandsfinanzierte Sondervermögen noch im Nachtragshaushalt zu berücksichtigen. Umso mehr aber müssten sie im Haushalt 2024 berücksichtigt werden.
Der Finanzwissenschaftler Fritz Söllner von der TU Ilmenau ging noch weiter und forderte nicht nur die Berücksichtigung sämtlicher Sondervermögen, sondern auch der aus der Allgemeinen Rücklage entnommenen Gelder. Dabei handele es sich um in vergangenen Jahren nicht verwendete Mittel, die auf Folgejahre übertragen worden seien, für deren Verwendung aber gleichwohl Schulden aufgenommen werden müssten. Die tatsächliche Verschuldung sei im Nachtragshaushalt um rund 43 Milliarden Euro für die Entnahme aus der Allgemeinen Rücklage und 14 Milliarden aus Sondervermögen zu niedrig angesetzt. Dagegen verwies der Trierer Professor für Finanzrecht Henning Tappe darauf, dass "seit Ewigkeiten" Überschüsse aus einem Haushaltsjahr im Vollzug auf den nächsten Haushalt übertragen und einer Rücklage zugeführt worden sei. Daran habe Karlsruhe nichts beanstandet.
Notlagensituation für 2023 begründbar
Auch um die Schuldenbremse wurde gestritten: Der Finanzjurist Alexander Thiele von der BSP Business and Law School Berlin sieht mit dem vorliegenden Nachtragshaushalt dem Karlsruher Urteil "Genüge getan". Die Bundesregierung sei "erkennbar bemüht, sich aus dem Urteil ergebende Vorgaben zu erfüllen". Das gelte auch für die Erklärung einer Notlage, um die Schuldenbremse erneut auszusetzen. Sie sei "ausreichend begründet". Letzteres sahen die meisten Sachverständigen trotz Kritik im Detail ähnlich. Der Finanzwissenschaftler Berthold Wigger vom Karlsruher Institut für Technologie verwies darauf, dass jetzt, Ende 2023, zwar streng genommen keine Notlagensituation mehr herrsche, man sich jetzt aber gewissermaßen in die Situation Ende 2022 versetzen müsse, und damals sei eine anhaltende Notlage 2023 noch zu erwarten gewesen. Angesichts dessen erscheine ihm das Vorgehen der Regierung "angemessen".
Das höchste deutsche Gericht hatte die Umschichtung von 60 Milliarden Euro im Etat von 2021 für nichtig erklärt. Das Geld war als Corona-Kredit bewilligt worden, sollte aber später für Investitionen in Klimaschutz und die Modernisierung der Wirtschaft genutzt werden. Außerdem entschieden die Richter, dass sich der Bund in Notlagen bewilligte Kredite nicht für spätere Jahre zurücklegen darf. Nach dem Urteil drohte der Haushalt für das laufende Jahr verfassungswidrig zu sein. Denn der Bund hatte in Vorjahren bewilligte Kredite für die Energiepreisbremsen und Fluthilfen genutzt. Diese sollen nun nachträglich abgesichert werden, indem eine erneute Notlage erklärt und die Schuldenbremse ausgesetzt wird.
Weiterführende Links
Aus der Datenbank beck-online
Heintzen, Die Schuldenbremse (Art. 109 III und 115 II GG) in der Abfolge der außergewöhnlichen Notsituationen der Jahre 2020 bis 2022, NVwZ 2022, 1505
BVerfG, Erfolgloser Eilantrag gegen die Übertragung einer Kreditermächtigung in Höhe von 60 Milliarden Euro auf den "Energie- und Klimafonds" durch Rückwirkende Änderung des Haushaltsgesetzes 2021, BeckRS 2022, 34878
Frenz, Haushaltsumschichtung für Klimaschutz und Digitalisierung - verfassungswidrig?, GewArch 2022, 173