Deutsche Gerichte müssen Entscheidungen von Gerichten aus dem EU-Ausland nicht anerkennen, wenn Zweifel daran auftauchen, dass das Verfahren fair war. Der EuGH hat aber für ein polnisches Strafurteil eine konkrete umfassende Prüfung möglicher Mängel und deren Auswirkungen auf die Verurteilung verlangt.
Ein Pole, der seit Jahren in Deutschland ansässig ist, wurde in Polen in seiner Abwesenheit zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten wegen Untreue und Urkundenfälschung verurteilt. Die Aussetzung zur Bewährung wurde widerrufen und Polen beantragte, die Strafe in Aachen zu vollstrecken. Dazu angehört, erklärte der Pole, er sei erstens unschuldig und zweitens habe er überhaupt keine Ladung zur Hauptverhandlung erhalten. Die Akte ergab, dass die Ladung nur an seine polnische Adresse zugestellt worden war, obwohl er bereits in Deutschland wohnte. Daraufhin legte das Landgericht Aachen dem Europäischem Gerichtshof die Frage vor, ob es mit europäischem Recht vereinbar ist, die Vollstreckung der Strafe abzulehnen, wenn es Anhaltspunkte dafür gibt, dass das zugrunde liegende Strafverfahren unter gravierenden Mängeln gelitten hat und sich diese Mängel auf die Verurteilung ausgewirkt haben. Der EuGH bejahte die Frage.
Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung kann durchbrochen werden
Art. 3 Abs. 4 und Art. 8 des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe verhängt wird, kann nach Ansicht des Europäischen Gerichtshofs (Urteil vom 09.11.2023 – C-819/21) nach Art. 9 des Rahmenbeschlusses außer Acht gelassen werden, wenn außergewöhnliche Umstände es nahelegten, dass "systemische oder allgemeine" Mängel in Bezug auf das faire Verfahren bestünden.
Zweistufige Prüfung erforderlich
Die Luxemburger Richterinnen und Richter betonten, dass es Sache des vollstreckenden Mitgliedsstaats sei, die dem Urteil zugrunde liegenden Mängel zu prüfen – nicht die des EuGH. Lägen solche systemischen und allgemeinen Mängel vor, müsse anschließend untersucht werden, ob sich diese Fehler konkret auf das streitgegenständliche Urteil ausgewirkt haben. Dann könne es die Strafvollstreckungskammer wegen des Verstoßes Polens gegen das faire Verfahren nach Art. 47 Abs. 2 GrCh und Art. 2 EUV ablehnen, die Strafe zu vollstrecken.
Bei der Prüfung sei auf den Zeitpunkt der streitgegenständlichen Verurteilung abzustellen, so die Vierte Kammer weiter. Die Entwicklung der rechtlichen Gegebenheiten nach dem Erlass des Urteils bewerten die Luxemburger Richterinnen und Richter hingegen als irrelevant. Auch die Situation in Polen zum Zeitpunkt des Widerrufs ist nach ihrer Ansicht nicht maßgebend, weil der Widerruf eine bloße Vollstreckungsmaßnahme sei (Urt. v. 09.11.2023 - C‑819/21).
Weiterführende Links
Aus der Datenbank beck-online
EuGH, Europäischer Haftbefehl und gesetzlicher Richter – Gewährleistung fairen Verfahrens, NJW 2022, 1299 (m. Anm. Gaede)
EuGH, Europäischer Haftbefehl – Mindeststandards der Haftbedingungen im Ausstellungsstaat, NJW 2016, 1709