Das einem Strafrichter auferlegte Verbot, von Amts wegen einen Verstoß gegen die Pflicht zur Belehrung eines Verdächtigen über sein Aussageverweigerungsrecht zu prüfen, ist laut Europäischem Gerichtshof mit dem Unionsrecht vereinbar, wenn der Verstoß in einer angemessener Frist gerügt werden kann. Dabei müsse das Recht auf einen Anwalt gewährleistet sein und der Verdächtige oder sein Anwalt zum Zweck der Rüge Akteneinsicht nehmen können.
Verdächtige ohne vorherige Belehrung befragt
In dem zugrunde liegenden Fall aus Frankreich hatten sich zwei Männer nachts in der Nähe eines Lastwagens auf einem Firmenparkplatz aufgehalten. Sie zogen die Aufmerksamkeit der Polizei auf sich, die sogleich strafrechtliche Ermittlungen wegen Kraftstoffdiebstahls einleitete und die Männer ohne vorherige Belehrung über ihr Aussageverweigerungsrecht an Ort und Stelle befragte, ihr Fahrzeug durchsuchte und die Männer anschließend in Gewahrsam nahm. Erst kurze Zeit später wurden die beiden Männer über ihre Rechte belehrt.
Gericht darf Verstoß gegen Belehrungspflicht nicht von Amts wegen prüfen
Das mit dem Strafverfahren gegen die Männer befasste französische Strafgericht sah in der verspäteten Belehrung einen Verstoß gegen die vom Unionsrecht garantierten Rechte beschuldigter Personen, sodass die Durchsuchung des Fahrzeugs, die Ingewahrsamnahme der Verdächtigen und alle sich daraus ergebenden Rechtsakte grundsätzlich für nichtig erklärt hätten werden müssen. Der französische Kassationsgerichtshof habe die Strafprozessordnung jedoch dahin ausgelegt, dass sie es dem Tatrichter verbiete, von Amts wegen einen Verstoß gegen die Belehrungspflicht zu prüfen. Das Gericht rief daher den EuGH zur Vereinbarkeit dieses Verbots mit dem Unionsrecht an.
EuGH: Verbot bei Rügemöglichkeit grundsätzlich mit Unionsrecht vereinbar
Laut EuGH ist das dem Strafrichter des Hauptverfahrens auferlegte Verbot, von Amts wegen einen Verstoß gegen die Pflicht zu prüfen, einen Verdächtigen umgehend über sein Recht auf Aussageverweigerung zu belehren, grundsätzlich nicht zu beanstanden. Das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein faires Verfahren sowie die Verteidigungsrechte würden grundsätzlich gewahrt, sofern die Verdächtigen, die beschuldigten Personen oder ihre Rechtsanwälte die praktische und wirksame Möglichkeit hatten, den Verstoß innerhalb einer angemessenen Frist zu rügen, und zu diesem Zweck Einsicht in die Akte nehmen konnten.
Recht auf Anwalt muss gewährleistet sein
Der EuGH betont aber, dass die Verdächtigen oder beschuldigten Personen innerhalb der ihnen für die Rüge eines solchen Verstoßes zur Verfügung stehenden Frist praktisch und wirksam über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand verfügt haben müssen, wie es im Unionsrecht verankert sei und durch den Mechanismus der Prozesskostenhilfe erleichtert werde. Er stellt ferner klar, dass die Verdächtigen oder Beschuldigten bei Verzicht auf einen Anwalt grundsätzlich die etwaigen Folgen dieses Verzichts tragen müssen, sofern dieser im Einklang mit den im Unionsrecht vorgesehenen Voraussetzungen erfolgt sei. Erforderlich sei insbesondere, dass der Verdächtige/Beschuldigte einfach und verständlich in mündlicher oder schriftlicher Form ausreichend über den Inhalt des Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand und über die möglichen Folgen eines Verzichts informiert worden sei und die Verzichtserklärung freiwillig und unmissverständlich abgebe (Urt. v. 22.06.2023 - C-660/21).