Ein nach Dienstschluss am Tag des Fristablaufs per besonderem elektronischen Anwaltspostfach (beA) übermittelter Fristverlängerungsantrag ist noch rechtzeitig gestellt. Berücksichtigt ein Gericht diesen nicht, kann darin laut Bundesverfassungsgericht ein Gehörsverstoß liegen. Verzögerungen der gerichtsinternen Weiterleitung könnten nicht zulasten der Partei gehen.
Anwalt beantragte rechtzeitig Fristverlängerung
Die Beschwerdeführerin wandte sich gegen ein klageabweisendes amtsgerichtliches Urteil und einen Beschluss über eine dagegen erhobene Anhörungsrüge. Sie war 2020 zeitweise Mitglied eines Zusammenschlusses von Künstlern, der musikalische Dienstleistungen anbot. Im Oktober 2021 hatte sie Teilklage auf Auszahlung von Beträgen erhoben, die dieser im Rahmen eines – später stornierten – Gastspielvertrags vereinnahmt hatte. Nachdem das AG Mülheim an der Ruhr die Klageerwiderung weitergeleitet und eine Frist zur Replik innerhalb von zwei Wochen bis zum 20.12.2021 gesetzt hatte, beantragte ihr Anwalt Fristverlängerung. Das Schreiben wurde am Tag des Fristablaufs um 17:54 Uhr per beA versandt.
AG: Anfrage lag bei Urteilsabfassung noch nicht einmal der Geschäftsstelle vor
Das AG wies die Klage ab, da aus dem Gastspielvertrag hervorgehe, dass die Planungspauschale in Höhe von 249 Euro zugunsten des beklagten Kollektivs zu zahlen sei. Laut handschriftlichem Vermerk lag dem Richter der Fristverlängerungsantrag zum Zeitpunkt der Anfertigung des Urteils am 21.12.2021 nicht vor. Dagegen legte die Künstlerin am 30.12.2021 beim AG erfolglos eine Anhörungsrüge ein. Der Jurist hätte sein Fristverlängerungsgesuch früher stellen müssen, so die Begründung des Gerichts. Er habe nicht erwarten können, dass nach Ablauf der üblichen Dienstzeiten noch über sein Gesuch entschieden werde und er habe nicht darauf vertrauen dürfen, dass dem Antrag stattgegeben werden würde. Bei Abfassung des Urteils habe der Antrag noch nicht einmal der Geschäftsstelle vorgelegen. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde beim BVerfG war die Frau im Wesentlichen erfolgreich.
Gerichtsinterne Verzögerungen gehen nicht zulasten der Beschwerdeführerin
Dem BVerfG zufolge verletzt das Urteil des AG die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht auf rechtliches Gehör aus Artikel 103 Abs. 1 GG. Die Verfassungsrichter verwiesen die Sache daher zurück. Es habe den Fristverlängerungsantrag übergangen und sein den Rechtszug abschließendes Urteil erlassen, ohne darüber entschieden zu haben, monierte das BVerfG. Der Antrag müsse als am 20.12.2022, 17:54 Uhr, gestellt gelten, denn zu diesem Zeitpunkt sei das per beA übermittelte Schreiben bereits in den Machtbereich des Gerichts gelangt. Soweit das AG in seinem Beschluss über die Anhörungsrüge ausgeführt habe, der Antrag habe zum Zeitpunkt der Urteilsanfertigung nicht einmal der Geschäftsstelle vorgelegen, verstehe es die prozessrechtlichen Anforderungen falsch. So habe es der Frau die Möglichkeit genommen, zu dem Vorbringen der Beklagtenseite Stellung und damit Einfluss auf die gerichtliche Entscheidung zu nehmen. Verzögerungen bei der Weiterleitung des Antrags innerhalb des Gerichts könnten nicht zulasten der Beschwerdeführerin gehen (Beschl. v. 10.05.2023 - 2 BvR 370/22).
Weiterführende Links
Aus der Datenbank beck-online
- BVerfG, Verfassungsbeschwerde, Dienstleistungen, Verletzung, Frist, Verschulden, Zeitpunkt, Klage, Umfang, Stellungnahme, BeckRS 2023, 11690 (vollständige Gründe)
- BVerfG, Verletzung des rechtlichen Gehörs durch Übergehen eines Fristverlängerungsgesuchs, BeckRS 2018, 20553