Das Bundesverfassungsgericht steht vor einem Urteil zu der Frage, ob das Bundestagswahlrecht für die Bürger zu kompliziert geworden ist. Es nahm am Dienstag die Vorschriften unter die Lupe, nach denen 2021 der aktuelle Bundestag zustande kam. Kein Jahr zuvor hatte die damalige schwarz-rote Koalition das Verfahren der Sitzzuteilung im Alleingang reformiert. 216 Abgeordnete von FDP, Grünen und Linken, die damals in der Opposition waren, hatten dagegen gemeinsam geklagt.
Langer Streit über das "Wie" der Wahlrechtsreform
Ein Kritikpunkt: Die Regelungen seien so undurchsichtig, dass die Wähler nicht mehr verstehen könnten, wie sich ihre Stimme auswirke. Selbst Staatsrechtslehrer seien nicht mehr in der Lage, sie korrekt zu erklären, sagte Rechtsprofessorin Sophie Schönberger, die die Kläger vertritt. Der Bevollmächtigte des Bundestags, Bernd Grzeszick, hielt dem entgegen, dass das bei der Wahl nicht zu Problemen geführt habe. Die Wähler hätten anscheinend damit umgehen können. Die Reform hatte das Ziel, den durch Überhang- und Ausgleichsmandate immer größer gewordenen Bundestag zu verkleinern. Dass das dringend nötig ist, sehen alle Parteien. Derzeit gibt es 736 Abgeordnete, so viele wie nie zuvor – und die Regelgröße ist eigentlich auf 598 festgelegt. Aber über das "Wie" wird seit Jahren gestritten. Denn jeder möchte vermeiden, dass die Schrumpfkur auf seine Kosten geht.
Klärungsbedarf trotz neuen Ampelvorschlags
Vor kurzem haben die Ampel-Koalitionäre von SPD, Grünen und FDP eine eigene, deutlich weitgehendere Wahlrechtsreform auf den Weg gebracht, die ebenfalls von der Opposition scharf kritisiert wird. FDP, Grüne und Linke waren der Ansicht, dass sich das Karlsruher Verfahren zur Vorgänger-Reform damit eigentlich erledigt hat. Ihren Antrag, es ruhend zu stellen, hatten die Richter aber im März zurückgewiesen. Es bestehe ein "erhebliches Interesse an der Feststellung", ob der aktuelle Bundestag auf Grundlage eines verfassungsgemäßen Wahlrechts zustande gekommen sei, bekräftigte Vizegerichtspräsidentin Doris König zum Auftakt der eintägigen Verhandlung (Az.: 2 BvF 1/21). Außerdem muss die Wahl in einigen Berliner Wahlbezirken wegen Pannen am Wahltag möglicherweise noch einmal wiederholt werden. Diese Wahl müsste nach denselben Regeln stattfinden wie die ursprüngliche.
Urteil in nächsten Monaten erwartet
Ein Punkt der Reform von 2020 war, dass Überhangmandate erst ab dem vierten Mandat durch Ausgleichsmandate für andere Parteien kompensiert werden. Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei mehr Direktmandate gewinnt, als ihr nach dem Zweitstimmen-Ergebnis Sitze zustehen. Der Grünen-Politiker Till Steffen kritisierte, damit habe sich die CSU einen "ganz starken Sondervorteil" gesichert. Die CSU-Kandidaten gewinnen in Bayern in der Regel fast alle Wahlkreise. Das Urteil wird in den nächsten Monaten verkündet. Bis dahin ist die neue Reform der Ampel möglicherweise beschlossene Sache. Auch deshalb ist nicht ganz klar, welche Auswirkungen sich ergeben. Formal stellen die Richter nur fest, ob die Vorschriften verfassungswidrig sind.
Aktuell Streit um geplante Streichung der Grundmandatsklausel
Bei der aktuellen Reform sorgt vor allem die geplante Streichung der Grundmandatsklausel für Diskussionen. Bisher ziehen Parteien auch dann in der Stärke ihres Zweitstimmenergebnisses in den Bundestag ein, wenn sie unter 5% liegen, aber mindestens drei Direktmandate gewinnen – was vor allem der CSU und den Linken zugutekommt. Diese Klausel soll nun wegfallen. Laut einem Bericht der "Zeit" sollen einige führende Landespolitiker der Grünen inzwischen allerdings Bedenken gegen die Streichung haben. Dagegen sagte Bundestagsfraktionschefin Katharina Dröge am Dienstag in Berlin: "Wir haben ganz klar unsere Position zum Wahlrecht zum Ausdruck gebracht mit unserem Abstimmungsverhalten im Deutschen Bundestag, und das ist noch nicht lange her."
Weiterführende Links
Aus der Datenbank beck-online
- Steffen/Heveling, Wahlrechtsreform verfassungsgemäß?, DRiZ 2023, 140
- Michl, Gefangen im System? Zur verfassungsrechtlichen Kritik an der Wahlrechtsreform der Ampelkoalition, ZRP 2023, 93
- Grzeszick, Gleichheit der Wahl und Wahlrechtssystem, NVwZ 2023, 286
- Boehl, Zu viele Abgeordnete im Bundestag?, ZRP 2017, 197