Die Vollstreckung eines EU-Haftbefehls kann ausgesetzt werden, wenn offensichtlich die Gefahr einer Schädigung der Gesundheit der betroffenen Person besteht. Dies hat der Europäische Gerichtshof entschieden. Die Vollstreckungsbehörde müsse dann bei der Ausstellerbehörde umfassende Informationen zu den Bedingungen der Strafverfolgung oder Inhaftierung einholen. Von der erteilten Auskunft hänge das weitere Prozedere ab.
Vollstreckung eines EU-Haftbefehls trotz Psychose und Suizidgefahr?
Gegen einen in Italien aufhältigen, unter einer Psychose leidenden Mann liegt ein EU-Haftbefehl aus Kroatien vor. Das für die Vollstreckung dieses Haftbefehls zuständige italienische Gericht ging auf Grundlage eines psychiatrischen Gutachtens davon aus, dass eine Übergabe die Psychose erheblich verschlechtern und eine Suizidgefahr begründen würde. Da solche gesundheitlichen Gründe nach den italienischen Vorschriften aber keinen Grund für die Ablehnung der Übergabe darstellen, wandte es sich an den italienischen Verfassungsgerichtshof, der dann den EuGH zur Auslegung des Rahmenbeschlusses über den EU-Haftbefehl anrief.
EuGH: Vollstreckung kann bei offensichtlicher Gesundheitsgefährdung ausgesetzt werden
Laut EuGH kann die Vollstreckung eines EU-Haftbefehls grundsätzlich nur aus den im Rahmenbeschluss genannten, eng auszulegenden Gründen abgelehnt werden. Etwas anderes gelte ausnahmsweise dann, wenn die Übergabe offensichtlich eine Gefährdung für die Gesundheit der betroffenen Person darstellt. Dann könne die vollstreckende Justizbehörde die Übergabe ausnahmsweise aussetzen. Zur Aussetzung verpflichtet sei sie unter Berücksichtigung des Verbots unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung in der EU-Grundrechtecharta, wenn im Fall der Übergabe die reale Gefahr einer erheblichen Verkürzung ihrer Lebenserwartung oder einer raschen, ernsten und unumkehrbaren Verschlechterung ihres Gesundheitszustands besteht.
Pflicht zur umfassenden Information bei Ausstellerbehörde
In diesem Fall müsse sie bei der ausstellenden Justizbehörde um umfassende Informationen über die Bedingungen der Strafverfolgung oder Inhaftierung nachsuchen. Könne die genannte Gefahr durch die Zusicherungen der ausstellenden Justizbehörde abgewandt werden, sei der EU-Haftbefehl zu vollstrecken. Komme die vollstreckende Justizbehörde "unter außergewöhnlichen Umständen" aufgrund der erteilten Auskunft zu dem Schluss, dass die Gefahr einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung besteht und dass diese Gefahr nicht in angemessener Frist abgewandt werden kann, dürfe sie den EU-Haftbefehl nicht vollstrecken. Könne die genannte Gefahr hingegen in angemessener Frist abgewandt werden, sei mit der ausstellenden Justizbehörde ein neues Übergabedatum zu vereinbaren (Urt. v. 18.04.2023 - C-699/21).
Weiterführende Links
Aus der Datenbank beck-online
- Gierok, Aktuelle Entwicklungen der Rechtsprechung des EuGH zum Europäischen Haftbefehl, IWRZ 2022, 58