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Ne bis in idem in der Europäischen Union

EuGH
Die im Schen­ge­ner Durch­füh­rungs­über­ein­kom­men ge­re­gel­te Mög­lich­keit, Aus­nah­men vom Dop­pel­be­stra­fungs­ver­bot zu ma­chen, ver­stö­ßt nicht gegen die Eu­ro­päi­sche Grund­rech­te­char­ta. Auf Vor­la­ge des OLG Bam­berg hat der EuGH ent­schie­den, dass das Ver­bot der Dop­pel­be­stra­fung ein­schränk­bar ist, wenn eine Tat sich gegen die Si­cher­heit oder we­sent­li­che In­ter­es­sen eines Staats ge­rich­tet hat.

Verdacht auf Gründung einer kriminellen Vereinigung

Ein Israeli soll in Österreich eine kriminelle Vereinigung gegründet und ein betrügerisches Anlagesystem geschaffen haben. Über das Internet soll er mithilfe "chancenreicher Anlagen" unter anderem in Deutschland Menschen zu Investitionen veranlasst haben, die er dann veruntreut haben soll. Er wurde deswegen vom Landesgericht Wien wegen gewerbsmäßigen Betrugs und Geldwäscherei zu vier Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Nach dessen Verbüßung kam er wegen derselben Tat aufgrund eines europäischen Haftbefehls aus Deutschland in Haft. Zur Last gelegt wurde ihm die Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung nach § 129 StGB. Die deutsche Regierung hatte nach Art. 55 Abs. 1b des Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ) erklärt, sich nicht an das Verbot der Doppelbestrafung nach § 54 SDÜ gebunden zu fühlen, soweit es um nach § 129 StGB strafbare Taten geht. Auf die Beschwerde des Inhaftierten legte das Oberlandesgericht Bamberg die Sache dem EuGH vor. Es wollte wissen, ob diese Ausnahmeregelung mit dem Verbot der Doppelbestrafung in Art. 50 GRCh vereinbar ist.

Ein Fall von ne bis in idem?

Laut dem EuGH verbietet Art. 50 GRCh es dem Vertragsstaat, einen Menschen wegen einer Straftat, deretwegen er bereits in der Europäischen Union rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, erneut zu verfolgen. Niemand solle wegen desselben Sachverhalts zweimal belangt werden. Voraussetzung ist den Luxemburger Richtern zufolge eine identische materielle Tat – dieselbe Person handelte zur selben Zeit an demselben Ort. Ob eine solche Tat vorliegt, müsse das erkennende Gericht prüfen. Fraglich sei hier, ob Österreich den Mann nur wegen der Taten gegenüber den österreichischen Geschädigten verurteilt habe oder wegen aller Geschädigten inklusive der in Deutschland wohnhaften.

Ausnahmen sind möglich

Nach Art. 55 Abs. 1b SDÜ kann ein Mitgliedstaat unter anderem erklären, dass er sich nicht an das Verbot der Doppelbestrafung gebunden fühlt, wenn die Straftat gleichermaßen gegen die Sicherheit Deutschlands gerichtet war. Dann, so der EuGH, gelte Art. 52 Abs. 1 Satz 2 GRCh, wonach Einschränkungen dieses Verbots nur unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit vorgenommen werden dürfen. Die nationale Sicherheit ist laut dem EuGH lediglich dann tangiert, wenn die wesentlichen Funktionen des Staates oder die grundlegenden Interessen der Gesellschaft durch die Tat in schwerwiegender Weise destabilisiert werden. Darüber hinaus verlange Art. 55 Abs. 2 SDÜ, dass der Mitgliedstaat vor der Tat seinen Bürgern klare und präzise Regeln bekannt macht, in welchen Fällen eine solche Ausnahme gegeben sei, so dass der Täter sich darauf einstellen könne.

Können Vermögensdelikte die nationale Sicherheit gefährden?

Die zweite Frage des OLG Bamberg lautete, ob die Art. 50 und 52 der GRCh dahin auszulegen seien, dass die Bildung einer kriminellen Vereinigung, die nur Vermögensdelikte begeht, eine Erklärung nach Art. 55 SDÜ, wonach sich der Vertragsstaat nicht an das Verbot der Doppelbestrafung gebunden sieht, zulasse? Der EuGH schloss das nicht prinzipiell aus: Es komme eben darauf an, wie sehr Höhe und Ausmaß der Vermögensschäden die öffentliche Ordnung oder Sicherheit des Mitgliedsstaats beeinträchtigen (Urt. v. 23.03.2023 - C-365/21).

Weiterführende Links

Aus der Datenbank beck-online

  • EuGH, Urteil vom 23.03.2023 – C-365/21BeckRS 2023, 4924 (vollständiges Urteil)
  • EuGH, ne bis in idem bei zwei Verfahren nach Regulierungs- und Kartellrecht, NZKart 2022, 203
  • Horstkotte/Jannausch, Ne bis in idem im Europäischen Wettbewerbsrecht, IWRZ 2022, 147
  • Gaede, Transnationales „ne bis in idem“ auf schwachem grundrechtlichen Fundament, NJW 2014, 2990

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