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Editorial JA 1/2024

Prof. Dr. Elisa Hoven, Universität Leipzig

Gerechtigkeit oder Rechtssicherheit?

»Ein wichtiges Urteil für Rechtssicherheit und Rechtsstaatlichkeit! « – »Eine ungerechte und für niemanden nachvollziehbare Entscheidung!« Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Wiederaufnahme von Strafverfahren zuungunsten Verurteilter (vgl. auch S. 76 ff. in diesem Heft) hat in der Fachwelt und in der Öffentlichkeit kontroverse und teilweise emotionale Reaktionen ausgelöst. Während das Urteil von einigen als notwendiger Schutz des Bürgers vor wiederholter Strafverfolgung begrüßt wird, sehen andere die Belange materieller Gerechtigkeit als so gewichtig an, dass Ausnahmen vom Mehrfachverfolgungsverbot möglich sein müssen.

Ich vertrete die zweite Ansicht und halte die Entscheidung des BVerfG für nicht überzeugend. Doch obwohl die Position der Senatsmehrheit angreifbar ist, eignet sich das Urteil nicht für eine grundlegende Kritik am Verfassungsgericht, wie sie jedoch in Medien und sozialen Netzwerken zu hören war. Der 2. Senat stand vor der Herausforderung, einen seit Jahren geführten Streit über das Verständnis von Art. 103 III GG im Spannungsverhältnis zwischen materieller Gerechtigkeit und Rechtssicherheit zu entscheiden. Eine klar richtige oder eine klar falsche Antwort gibt es hier nicht.

Worum ging es? Nach einem Mordfall im Jahr 1981 war es 1983 zu einem rechtskräftigen Freispruch gekommen. Der Vater des Opfers drängt 30 Jahre später auf neue Ermittlungen. Mithilfe der zwischenzeitlich fortgeschrittenen DNA-Technik ließ sich die Übereinstimmung einer Sekretspur auf der Unterwäsche des Opfers mit der DNA des damals Freigesprochenen nachweisen. Trotz des neuen Beweismittels war eine Wiederaufnahme des Verfahrens gegen ihn nicht möglich. § 362 StPO, der die Wiederaufnahme zuungunsten des Verurteilten regelt, sah keinen solchen Wiederaufnahmegrund vor. Der Gesetzgeber ergänzte daraufhin im Jahr 2021 § 362 StPO um eine neue Nr. 5 zur Wiederaufnahme trotz Freispruchs, wenn »neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die allein oder in Verbindung mit früher erhobenen Beweisen dringende Gründe dafür bilden, dass der freigesprochene Angeklagte« wegen besonders schwerer Straftaten wie Mord, Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt wird. Auf Basis des neuen Gesetzes leitete die Staatsanwaltschaft das Verfahren erneut ein, der Beschuldigte legte gegen den Haftbefehl Verfassungsbeschwerde ein, da § 362 Nr. 5 StPO gegen Art. 103 III GG und gegen das Rückwirkungsverbot verstoße.

Die Mehrheit des Senats gab dem Beschwerdeführer in beiden Punkten Recht. Art. 103 III GG enthalte kein bloßes Mehrfachbestrafungsverbot, sondern ein Mehrfachverfolgungsverbot. Der Einzelne solle darauf vertrauen dürfen, dass er nach einem abgeschlossenen Verfahren nicht erneut wegen desselben Sachverhalts belangt werde. Hinzu trete der Gedanke des Rechtsfriedens; die Gesellschaft habe ein Interesse an einer endgültigen Feststellung der Rechtslage.

Anders als das Sondervotum lässt die Senatsmehrheit keine Abwägung zwischen materieller Gerechtigkeit auf der einen und Rechtssicherheit auf der anderen Seite zu. Der Verfassungsgeber habe in Art. 103 III GG diesen Konflikt zugunsten eines ausnahmslosen Vorrangs von »ne bis in indem« gelöst. Das Prinzip gelte absolut, es könne aufgrund der im Grundgesetz bereits getroffenen Vorrangentscheidung nicht durch andere Grundsätze der Verfassung eingeschränkt werden. Der Senat stützt diese Auslegung maßgeblich auf den historischen Kontext der Entstehung des Grundgesetzes als Gegenentwurf zum Unrecht des Nationalsozialismus, wo es zur »uferlosen Durchbrechung des Prinzips der Rechtskraft« gekommen sei. Die Materialien zur Entstehungsgeschichte von Art. 103 III GG geben für die vom BVerfG gewählte Auslegung allerdings keinen Anhalt; eine Debatte zur Einschränkbarkeit des Mehrfachverfolgungsverbotes ist nicht dokumentiert. Folgt man der Senatsmehrheit, kommt es auf die Frage, ob § 362 Nr. 5 StPO einen verhältnismäßigen Ausgleich der Verfassungsgüter vorsieht, dann nicht mehr an.

Das Sondervotum der Richter Langenfeld und Müller weist allerdings auf einen gravierenden Widerspruch in dieser Argumentation hin. Denn Ausnahmen von »ne bis in idem« kennt das geltende Recht ja bereits – in § 362 Nr. 1 bis 4 StPO. Diese Einschränkungen möchte die Senatsmehrheit gelten lassen als in Art. 103 III GG inkorporierte immanente Beschränkungen. Damit werden nicht nur die zufälligen Gegebenheiten der vorkonstitutionellen Rechtslage zu Verfassungsrecht erhoben, es entstehen auch kaum zu behebende Wertungswidersprüche. Kann es wirklich einen entscheidenden Unterschied machen, ob der Freigesprochene unter dem Druck einer erdrückenden neuen Beweislage gesteht (§ 362 Nr. 4 StPO)? Vieles spricht dafür, dass unser Grundgesetz Durchbrechungen des Mehrfachverfolgungsverbots nicht per se verbieten wollte. Eng umgrenzte Ausnahmen, wie die Neuregelung sie vorsah, wären danach ebenso legitim wie die bestehenden Einschränkungen.

Wenn ein Prinzip absolute Geltung beansprucht, sollte man grundsätzlich skeptisch sein. Im deutschen Grundgesetz ist allein die Menschenwürde unantastbar; ansonsten ist es gerade ein wesentlicher Verfassungsauftrag, konfligierende Verfassungsgüter in einen verhältnismäßigen Ausgleich zu bringen. Dass ein Grundsatz der Abwägung entzogen wird und der demokratisch legitimierte Gesetzgeber anderen Verfassungsprinzipien keinen Vorrang einräumen darf, ist höchst begründungsbedürftig.

Mit § 362 Nr. 5 StPO wurde ein wichtiges Ziel verfolgt, das auch das Sondervotum klar als solches benennt: Die Durchsetzung des materiellen Strafrechts im Fall schwerster Straftaten ist eine wesentliche Aufgabe des Rechtsstaates. Materielle Gerechtigkeit ist keine bloße Leerformel, sondern das zentrale Anliegen von Strafrecht und Strafverfahren. So verwundert es auch nicht, dass das Verhältnis von Rechtssicherheit und Gerechtigkeit auch anders gewichtet werden könnte. Das zeigt bereits ein Blick über Deutschland hinaus: 17 der vom BVerfG untersuchten 32 überwiegend europäischen Rechtsordnungen kennen eine Wiederaufnahme wegen neuer Beweismittel, ebenso Art. 4 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK. Aus Sicht des BVerfG trifft unser Grundgesetz aber historisch eine andere Werteentscheidung; um die Wiederaufnahme zu erweitern, müsste also unsere Verfassung geändert werden.

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