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Editorial JA 5/2023

Prof. Dr. Rüdiger Rubel, Frankfurt am Main
Paulskirche und Verwaltungsgerichtsbarkeit

Paulskirche und Verwaltungsgerichtsbarkeit

Vor 175 Jahren, am 18. Mai 1848, trat in der Frankfurter Paulskirche die Nationalversammlung – das erste gesamtdeutsche Parlament – zusammen, um über die revolutionären Forderungen des liberalen Bürgertums zu beraten: eine freiheitliche Verfassung und die Bildung eines deutschen Nationalstaates. Die Verfassung wurde im Folgejahr beschlossen, doch Umsetzung und Einheit scheiterten an den wiedererstarkten monarchisch restaurativen Kräften. Die Errungenschaften des Verfassungstextes blieben. Vor allem der Grundrechtskatalog hatte Vorbildwirkungen für die Weimarer Verfassung und das Grundgesetz.

Die diesjährigen Feiern zum Jubiläum der Paulskirchenversammlung knüpfen vor allem an den Demokratieforderungen von 1848/1849 an. Doch schon damals wusste das Bürgertum: Es reicht nicht aus, demokratischen Einfluss auf die Gesetzgebung zu erringen, wenn Auslegung und Anwendung der Gesetze durch die vom Adel beherrschte Exekutive keiner rechtsstaatlichen Kontrolle unterliegen. Die Lösung der Paulskirchenverfassung in § 182 I lautete: »Die Verwaltungsrechtspflege hört auf; über alle Rechtsverletzungen entscheiden die Gerichte.«

Der erste Teil des Satzes wird nur verständlich, wenn man weiß, dass eine Kontrolle der Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns zuvor nur durch die Verwaltung selbst stattfand. Trotz ihrer Bezeichnung als Administrativ- oder Kameraljustiz konnte sie weder unabhängig noch unparteilich noch umfassend genannt werden. Und der zweite Halbsatz erinnert zwar schon an die Rechtsschutzgarantie von Art. 19 IV GG, es blieb aber letztlich umstritten, ob als »Gerichte« die vorhandenen Zivilgerichte oder eine neu zu errichtende Fachgerichtsbarkeit eingesetzt werden und ob diese über alle objektiven Rechtsverstöße des Verwaltungshandelns oder (nur) über die Verletzungen subjektiver Rechte der jeweiligen Kläger richten sollten.

Die Systementscheidung für eine unabhängige Verwaltungsgerichtsbarkeit zum Schutz der subjektiven Rechte gegenüber der öffentlichen Gewalt fiel erst Jahre später und vollzog sich in Etappen. Die Realisierung begann 1863 in Baden. Preußen, Hessen-Darmstadt und danach alle anderen deutschen Einzelstaatenfolgten in den nächsten Jahrzehnten: zunächst mit der Errichtung einer einzigen, von der Verwaltung erstmals unabhängigen Verwaltungsgerichtsinstanz mit allerdings nur begrenzter, enumerativer Zuständigkeit und weitgehend ohne Kontrolle von Ermessensentscheidungen, in der Weimarer Zeit mit partieller Zweiinstanzlichkeit und – nach der rechtlichen und faktischen Bedeutungslosigkeit der Verwaltungsgerichte während der NS-Herrschaft – unter dem Grundgesetz mit umfassender Zuständigkeit und Kontrollkompetenz und – seit genau70 Jahren – dreistufigem Aufbau mit dem Bundesverwaltungsgericht als oberster Instanz.

Jubiläen müssen, wenn sie mehr als nur dem Erinnern und der Affirmation des Gewesenen dienen sollen, den Blick auf die Gegenwart und die Zukunft lenken. Das Jubiläumsprogramm in Frankfurt am Main trägt den Titel »Demokratie im Kommen«. Das mag manchen angesichts der aktuellen Bedrohungen unserer Demokratie von außen wie von innen und der offenbar abnehmenden Attraktivität des Demokratiemodells in immer mehr Staaten der Welt eher als bloße Hoffnung denn als Prognose erscheinen, schließt aber auch weiter gespannte Themen wie Klimawandel, Kosmopolitismus und Globalisierung ein, die neue Fragen aufwerfen und neue Perspektiven eröffnen können.

Auch die Verwaltungsgerichtsbarkeit hat in den letzten Jahrzehnten einen Strukturwandel erfahren und ist neuen Herausforderungen ausgesetzt. Deutlich niedergeschlagen haben sich die immer wieder neuen gesetzgeberischen Bemühungen um Verschlankung und Beschleunigung des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens. Die Stichworte lauten: Verkürzung des Instanzenzuges, Heilungsmöglichkeit oder gar Unbeachtlichkeit bestimmter Rechtsverstöße im Verwaltungsverfahren, strengere Fristvorgaben für Verfahrenshandlungen im Prozess und Präklusion von Vorbringen. Ersten Anlass gab in den achtziger Jahren die stark erhöhte Zahl von Asylverfahren. Später ging es vor allem darum, im Interesse der schnellen Realisierung wichtiger Infrastrukturvorhaben Verzögerungen durch dagegen gerichtete Klagen zu minimieren. Dieser Gesichtspunkt hat für Infrastrukturprojekte, die der klimabedingten Verkehrs- oder Energiewendedienen sollen, besondere Aktualität und Dringlichkeit gewonnen. Doch auch insoweit bedarf es der gesetzgeberischen Einsicht, dass die weitere Verfahrensbeschleunigung an verfassungsrechtliche Grenzen stößt und eine angemessene personelle und sachliche Ausstattung der Verwaltungsgerichtsbarkeit jedenfalls nicht ersetzen kann.

Verändert hat sich der Verwaltungsprozess auch durch die Einwirkung des Unionsrechts. So hat die EU ihre materiellrechtlichen Kompetenzen vor allem im Umweltrecht sehr extensiv wahrgenommen und durch die Schaffung weitreichender Verbandsklagemöglichkeiten und die Anerkennung absoluter Verfahrensrechte im deutschen Rechtsschutzsystem ungewohnte, weil von der subjektiven Betroffenheit unabhängige Klagemöglichkeiten eingeführt. Für manche sind das Anzeichen des Niedergangs desdeutschen subjektiven Rechtsschutzmodells, andere prognostizieren zumindest eine zunehmende Konvergenz der unterschiedlichen objektiven bzw. subjektiven Rechtsschutzsystem ein den EU-Mitgliedstaaten.

Trotz dieser Veränderungen hat sich die Systementscheidung für subjektiven Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewaltdurch eine unabhängige Verwaltungsgerichtsbarkeit bislang – auch in einer außergewöhnlichen Krisensituation wie der Corona-Pandemie – bewährt. Als spezialisierte und fachkundige Gerichtsbarkeit können die Verwaltungsgerichte der Verwaltung auf Augenhöhe begegnen und den Auftrag zur Sicherung der Bindung und Begrenzung staatlicher Macht und zum Schutz der Rechte der Bürger effektiv erfüllen. Der Erfolg dieses Modells zeigt sich auch in seiner Vorbildwirkung insbesondere für westlich orientierte Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Unverändert gilt auch zukünftig die Erkenntnis der Frankfurter Paulskirchenversammlung: Demokratie und effektive rechtsstaatliche Kontrolle des Verwaltungshandelns gehören untrennbar zusammen.

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