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Editorial JA 12/2017

Prof. Dr. Christian Wolf, Hannover

Weihnachtsbuchempfehlung der JA 2017

 
Der oberste Interessenvertreter der Richter in Deutschland, Jens Gnisa, hat in diesem Jahr ein irritierendes Buch veröffentlicht, welches aber wie in einem Brennglas verdeutlicht, worum es uns in jedem Jahr bei unserer Weihnachtsbuchempfehlung geht (Jens Gnisa, Das Ende der Gerechtigkeit, Herder, 2017). Gnisa beschreibt, wie er während seines Studiums eine Kommilitonin belehrt habe, die ein gefundenes Ergebnis für ungerecht empfunden hat: »So sollte ein Jurist nicht denken.« »Wertungsfreier Sachverhalt – strikte rechtliche Prüfung – Ergebnis«. Bei diesem Verständnis von Recht nimmt es auch kein Wunder, dass dem Autor kein Fall einfällt, in dem er sein Urteil im Nachhinein nicht mehr als gerecht empfunden hat. Irgendetwas muss da grauenhaft schiefgelaufen sein im Studium!

Es gehört zum Grundverständnis der Rechtswissenschaft, dass sich das Gesetz nicht gleichsam mechanisch auf den Fall anwenden lässt. Schon alleine die Mehrdeutigkeit der Sprache und die Komplexität des Lebens erfordern eine wertende Interpretation des Gesetzes, eine Schließung seiner Lücken. All dies soll nicht an der Idee der Gerechtigkeit ausgerichtet, wertfrei möglich sein?

Selbstverständlich darf ein Richter seine Wertung nicht an die des Gesetzgebers setzen. Er hat seine richterliche Rechtsfortbildung offen zu legen und sich so der Kritik und Kontrolle zu stellen. Grundvoraussetzung von all dem ist aber, dass er sich für mehr öffnet als stupide Aufbauschemata. Mit anderen Worten: Man muss sich bewusstmachen, dass Recht unser Leben gestaltet und regelt. Ein guter Jurist ist nur ein Jurist, der sich über die geschichtlichen, ökonomischen, soziologischen und philosophischen Grundlagen unseres Rechts- und Gesellschaftssystems Gedanken macht. So jedenfalls beschreibt § 5a II DRiG den Anspruch an das juristische Studium. Diesem Blick über den Tellerrand dient jedes Jahr die Weihnachtsbuchempfehlung. Wie immer handelt es sich um eine subjektive und bei der Fülle der erschienenen Bücher naturgegebenermaßen unzureichende Auswahl:

Thomas Middelhoff, A115 Der Sturz, LangenMüller, 320 S., 24,00 EUR
Thomas Middelhoff wurde wegen Untreue und Steuerhinterziehung vom Landgericht Essen zu drei Jahren Haft ohne Bewährung verurteilt und unmittelbar nach der Urteilsverkündung im Gerichtssaal wegen Fluchtgefahr in Untersuchungshaft genommen. Über fünf Wochen wurde für Middelhoff eine Sicherungsüberwachung wegen einer möglichen Selbstmordgefahr angeordnet. Dies bedeutet, dass Justizvollzugsbeamte in jeder Nacht alle 15 Minuten das Licht in der Zelle A115, der Zelle von Middelhoff, anschalten, um zu überprüfen, ob dieser noch lebt. In dieser Zeit bricht eine lebensbedrohende Autoimmunkrankheit bei Middelhoff aus, welche er auf den permanenten Schlafentzug zurückführt. In seinem Buch schildert er einprägsam und erschütternd, wie aus Desinteresse, Überforderung oder schlicht aus Pflichtvergessen seine Krankheit nicht erkannt (Falschdiagnose Fußpilz) und ihm viel zu lange die lebensnotwendige medizinische Behandlung verweigert wird.

In der juristischen Ausbildung lernt man, was ein Diebstahl ist, die inhumanen und inakzeptablen Bedingungen des Strafvollzugs, wie Middelhoff sie schildert, hingegen nicht. Manche Kritiker haben Middelhoff vorgeworfen, sein Buch sei von Selbstmitleid geprägt, es fehle ein mea culpa. Der Vorwurf eines fehlenden mea culpa lässt sich in der Tat erheben, aber anders. Die Justiz und insbesondere der Strafvollzug sind kaputtgespart – direkte Folge der Austeritätspolitik, welche gerade auch von der internationalen Finanzelite (s. auch »Paradise-Papers«), zu der Middelhoff gehörte, eingefordert wurde.

Yanis Varoufakis, Die ganze Geschichte: Meine Auseinandersetzung mit Europas Establishment, Kunstmann, 664 S., 30,00 EUR
Die Ökonomie ist seit längerer Zeit die Leitwissenschaft geworden. Sie beansprucht gegenüber der Politik den Primat. Auch wenn Ökonomen gerne ihre Theorien gleich naturwissenschaftlichen Erkenntnissen als objektiv und unverrückbar darstellen, bleiben sie Theorien. Dabei stehen sich im Wesentlichen zwei unterschiedliche Ansichten gegenüber. Auf der einen Seite stehen die Keynesianer, die mit antizyklischer staatlicher Ausgabenpolitik die Konjunktur beleben wollen. Den Gegenpol markiert die Austeritätspolitik. Durch eine strikte Haushaltspolitik sollen die Staatsschulden abgebaut und so das Vertrauen der Wirtschaft gestärkt werden. Infolge der Finanzkrise gerieten Spanien, Portugal, Irland und Griechenland in eine finanzielle Schieflage, die Troika – bestehend aus EZB, Europäischer Kommission und Internationalem Währungsfond – stellte die betreffenden Länder mehr oder weniger unter Vormundschaft und verordnete diesen eine strikte Austeritätspolitik. Der Wirtschaftswissenschaftler Varoufakis war nach dem Wahlsieg von Syriza 2015 für ein halbes Jahr griechischer Finanzminister. In seinem Buch beschreibt Varoufakis fesselnd, wie auf der EU-Ebene verhandelt wird, wie sich Entscheidungsprozesse gestalten. Es ist ein brillantes, exzellent geschriebenes Buch, welches intime und so noch nie beschriebene Einblicke in den EU-Politikbetrieb bietet.

Julian Nida-Rümelin, Über Grenzen denken – Eine Ethik der Migration, Edition Körber, 248 S., 20,00 EUR
Das Thema Migration gehört zu den Themen, die die politische und damit auch die juristische Agenda bestimmen. Der Münchener Philosoph Nida-Rümelin setzt sich in seinem neuesten Buch damit auseinander. Ausgangspunkt seiner Überlegungen bildet die Auseinandersetzung mit verschiedenen philosophischen Strömungen der Gegenwart. Dabei tritt Nida-Rümelin einerseits für eine universalistische Ethik ein und sucht anderseits den Ausgleich mit einer kommunitären partikularen Bindung. Er nimmt dabei sowohl den Migrierenden selbst als auch die aufnehmende Gesellschaft und die Ursprungsregion des Migrierenden in den Blick und sucht jeweils nach einem Ausgleich. Die abwägende Position Nida-Rümelins zeichnet ein überaus differenziertes Bild. Migration kann die Probleme in den Ursprungsländern nicht lösen, vielmehr droht die Gefahr, dass die Herkunftsregionen geschwächt werden und die sozialen Konflikte in den aufnehmenden Staaten sich verschärfen.

Yuval Noah Harari, Homo Deus – Eine Geschichte von Morgen, C.H.Beck, 576 S., 24,95 EUR
Harari lehrt an der Hebrew University in Jerusalem Geschichte. In seinem neuesten Buch baut er einen faszinierenden Spannungsbogen auf, von den Anfängen der Menschheit bis in die Zukunft. Worin unterscheiden wir uns von Tieren und künstlicher Intelligenz? Sind wir nichts anderes als biologische Algorithmen? Stehen wir an einem Wendepunkt unserer Geschichte? Wie lässt sich künftig das liberale Grundverständnis aus Individualität, Menschenrechten, Demokratie und freiem Markt aufrechterhalten angesichts der Herausforderung durch die moderne Gehirnforschung und die künstliche Intelligenz? Harari hat ein Buch geschrieben, das tief aus der geschichtlichen Erfahrung argumentiert. Die Grundfragen, die er aufwirft, stellen sich jedem Juristen, der mehr sein will als ein juristischer Technokrat.

Heiko Maas (Hrsg.), Furchtlose Juristen – Richter und Staatsanwälte gegen das NS-Unrecht, C.H.Beck, 333 S., 29,80 EUR
Viele Richter der Weimarer Republik fühlten sich noch den alten Institutionen verpflichtet, sie lehnten die Republik ab und waren auf dem rechten Auge blind. Allzu schnell ließen sie sich in den Dienst des NS-Unrechtsregimes stellen. Ingo Müller hat diese Mitwirkung am NS-Unrecht 1987 in seinem Buch »Furchtbare Juristen« dokumentiert. Es gab aber nicht nur furchtbare Juristen, sondern – in weitaus geringerem Umfang – auch furchtlose Juristen im Dritten Reich. 17 dieser furchtlosen Richter bzw. Staatsanwälte werden in dem vom Bundesjustizminister herausgegebenen Band porträtiert. Zwar riskierte man bei aktivem Widerstand Leib und Leben. Jenseits dessen aber war es, wie das Buch zeigt, durchaus möglich, sich dem Unrechtsregime zu verweigern. Die Mär, man sei zum Mitmachen gezwungen gewesen, war Teil der Vergangenheitsbewältigung Adenauers. Das Buch verdeutlicht das Gegenteil.

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