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Editorial JA 1/2017

Prof. Dr. Hans Kudlich, Universität Erlangen-Nürnberg

Unvorstellbares – zum Glück!

 

Ende November wurde ein Beschluss des 3. Strafsenats vom 20.9.2016 (3 StR 49/16) bekannt: Der BGH bestätigt hierin die Verurteilung eines Angeklagten durch das LG Lüneburg wegen Beihilfe zum Mord in 300.000 rechtlich zusammentreffenden Fällen zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren. Der im Tatzeitraum 22 bzw. 23 Jahre alte ehemalige SS-Angehörige war seit 1942 im Konzentrationslager Auschwitz eingesetzt und an der systematischen Tötung der in Ungarn lebenden jüdischen Bevölkerung im Jahr 1944 beteiligt, bei der in rund zwei Monaten im Sommer 1944 mindestens 300.000 Juden nach Auschwitz deportiert und dort unmittelbar nach ihrer Ankunft in Gaskammern ermordet worden sein sollen. Der Angeklagte war in die Massentötungen in verschiedener Weise eingebunden. An einigen Tagen war er an der Rampe eingesetzt, an der die Züge im Lager eintrafen, und hatte dort das Gepäck der Deportierten zu bewachen, um Plünderungen zu verhindern, welche die für den weiteren Ablauf als unerlässlich angesehene Arglosigkeithätte beseitigen und zu Unruhe führen können. Daneben wirkte er bei der Verwertung der Vermögenswerte der Deportierten zugunsten der SS mit. Zuletzt gehörte zu seinen Aufgaben auch generell, die Deportierten zu überwachen und Widerstand oder Fluchtversuche mit Waffengewalt zu verhindern.

Die Dimension allein dieses einen Infernos des Hasses und der Gewalt mit 300.000 Opfern in zwei Monaten ist gewaltig, schrecklich und im Mitteleuropa der Jahre 2016/2017 eigentlich schlechterdings unvorstellbar. Zum Glück. Dafür können wir alle völlig unverdient dankbar sein. Und doch – oder gerade deswegen – zeigt der Umstand, dass ein Strafverfahren dazu jetzt rechtskräftig abgeschlossen worden ist, wie nahe das NS-Unrecht historisch noch ist. Dieser Aspekt der Entscheidung ist gewiss bedeutsamer als die Überlegungen zur Beihilfe durch strukturelle Unterstützungsmaßnahmen innerhalb einer großen verbrecherischen Organisationseinheit (obwohl das hier vom 3. Strafsenat gezeigte Verständnis des § 27 StGB gerade für die »NS-Helfer-Fälle« von Bedeutung ist und gegenüber früheren Entscheidungen – wenn historisch wohl auch zu spät – neue Akzente setzt), auch wenn diese beihilfedogmatischen Ausführungen durchaus in ganz anderen Kontexten ebenso von Bedeutung sein können.

Nun soll hier nicht darüber philosophiert werden, wie groß die individuelle Schuld der »Helfer« in einer Zeit gewesen ist, in der das Nicht-Helfen gewiss nicht einfach war: Allein die Schilderungen der vielfältigen Aufgaben des Angeklagten zeigen, dass eine Institution Auschwitz und ein System Nationalsozialismus nicht hätten funktionieren können, wenn (überspitzt ausgedrückt) nur Adolf Hitler und sein engerer Freundeskreis dafür gestanden hätte – das ist sicher. Und kaum weniger sicher erscheint, dass sehr viele von uns – wären sie in die damalige Zeit hinein geboren worden – wahrscheinlich auch keine heldenhaften Widerstandskämpfer geworden wären. In diesem Spannungsverhältnis ist die Aufgabe des Strafrechts, das Sachverhalte nicht nur einfach »regelt«, sondern massive sozialethische Vorwürfe an den einzelnen erhebt, nicht einfach. Das gilt umso mehr unter dem Regime von (vielleicht nur auf den ersten Blick vermeintlich archaisch anmutenden Vergeltungsgedanken überlegenen) modernen relativen Straftheorien: Denn es kann (ohne dies für den konkret vom BGH entschiedenen Fall zu wissen!) ohne Weiteres sein, dass ein Täter bestraft werden muss, der in den vergangenen 70 Jahren sozial unauffällig und bestens integriert gelebt hat und für den – zumal hochbetagt – sicher kein individueller Besserungsbedarf besteht; und dass jedenfalls auch negativ-generalpräventive Aspekte heute keine Bestrafung von Unrecht aus einer 70 Jahre zurückliegenden historischen Sondersituation erfordern, liegt auf der Hand.

Und doch darf das Recht vor einer solchen Unrechtsdimension auch heute nicht die Augen verschließen. Alles andere wäre ein falsches Signal in die Gesellschaft, aber auch an die noch überlebenden Opfer bzw. deren Nachkommen. Daran ändert auch der vielleicht nicht ganz unberechtigte Vorwurf einer »selektiven Strafverfolgung« nichts – denn dieser trifft (soweit im konkreten Fall der Nachweis einer rechtswidrigen Tat erbracht ist) weniger diejenigen, die selektiv verfolgen, als diejenigen, die selektiv (oder gar systemisch) nicht verfolgt haben. Den trotz allem nicht ganz von der Hand zu weisenden Bedenken mag man durch Entscheidungen mit Augenmaß im Rahmen der Vollstreckung der Strafe gegen einen weit über 90-jährigen Verurteilten Rechnung tragen.

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