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Editorial JA 6/2015

Prof. Dr. Christian Wolf, Leibniz Universität Hannover

Streitkultur im Wandel – weniger Recht?


Streitkultur im Wandel – weniger Recht? Dies ist das Motto unter dem der Deutsche Anwaltstag vom 11. bis 13 Juni in Hamburg tagt. Mit der Idee des Rechts ist die Rechtsdurchsetzung im Prozess unmittelbar verknüpft. Recht verliert seine Verbindlichkeit, seine regulative Leitidee, es gibt sich quasi selbst auf, wenn es auf die eigene Durchsetzbarkeit verzichtet. In der Regel wird zwar das Recht auch ohne prozessuale Durchsetzung befolgt, aber die potentielle prozessuale Rechtsdurchsetzung, also die Möglichkeit eine Rechtsverletzung jederzeit gerichtlich geltend machen zu können, hat entscheidenden Einfluss auf die Selbstbehauptung des Rechts. Hierauf hat schon Rudolf von Jhering in seiner Wiener Abschiedsvorlesung hingewiesen: Die Verteidigung des angegriffenen Rechts durch den Berechtigten ist nicht nur eine Pflicht gegen sich selbst, sondern auch gegen das Gemeinwesen.

Ist dies noch die Grundlage unseres Prozessrechtsverständnisses? Zunehmende Zweifel sind erlaubt. Was wir in den letzten Jahren erlebt haben ist im Grunde ein Paradoxon: Auf der einen Seite eine gesetzgeberische Detailregelungsversessenheit, wie sie zB in der Umsetzung der EU-Zahlungsdiensterichtlinie in §§ 675c–676c BGB zum Ausdruck kommt, und auf der anderen Seite die Huldigung von nicht rechtlich determinierten und nach den Prozessgrundsätzen entschiedenen Alternativen Streitbeilegungsmechanismen (Alternative Dispute Resolution – ADR). Seit dem Mediationsgesetz soll in der Klageschrift angegeben werden, ob vor Klageerhebung eine Mediation oder andere Form der außergerichtlichen Konfliktbewältigung erfolgte oder, wenn nicht, welche Gründe dem entgegenstehen. Nudging (Stupsen) nennt man so etwas. Der Gesetzgeber verbietet nicht die unmittelbare Klageerhebung. Er sagt uns aber, was er davon hält: Wenig! Versucht Euch doch erst einmal zu einigen! Warum aber bitteschön werden zunächst detaillierteste Regelungen erlassen, wenn man hinterher sagt, so genau wollen wir das gar nicht nehmen? Statt nach rechtlichen Positionen soll das Ganze in der Mediation nach den Interessen entschieden werden.

Derzeit wird ein weiterer und wohl grundlegender Schritt vorbereitet, die rechtlich determinierte Streitentscheidung mit einem rechtlich klar geregelten, an den Prozessmaximen und Verfahrensgarantien orientierten Verfahren zurückzudrängen. Die EU-Richtlinien über alternative Streitbeilegung in Verbraucherangelegenheiten muss bis zum 9. Juli 2015 in deutsches Recht umgesetzt werden. Die Umsetzung wird dazu führen, dass für Streitigkeiten zwischen Unternehmen und Verbrauchern breitflächig ein Verfahren etabliert wird, welches man kaum mehr als »Zivilprozess light« bezeichnen kann. Der Streitschlichter muss lediglich über allgemeine, nicht näher definierte Rechtskenntnisse verfügen. Reicht dafür die Zwischenprüfung oder ist doch schon der Große Schein imBGB erforderlich? Das Verfahren ist nur rudimentär geregelt. Unabhängig und unparteilich soll der Streitschlichter sein, rechtliches Gehör hat er zu gewähren, ansonstensoll sich die Verbraucherschlichtungsstelle eine Verfahrensordnung geben. Öffentlichkeit des Verfahrens? Fehlanzeige!

Zwar ist das ganze freiwillig, doch sind schon jetzt die Fallzahlen bei den Amtsgerichten deutlich rückläufig (um 35% seit 1995). Das neue Verbraucherstreitbeilegungsgesetz dürfte zu einem weiteren Rückgang der Fallzahlen führen. Unklar ist, was dieser Hype um die alternativen Streitbeilegungsformen für unser Rechtssystem bedeutet. Als Hauptproblem dürfte sich die fehlende Öffentlichkeit erweisen. Zwar müssen die Verbraucherschlichtungsstellen regelmäßig Tätigkeits- und Evaluierungsberichte vorlegen. Öffentliche Verhandlungen und veröffentlichte Entscheidungen gibt es aber gerade nicht. Die Öffentlichkeit erfährt nicht, wie der Verbraucher demjenigen die Stirn bietet, der sein Recht verletzt hat, wie er seine sittliche Pflicht gegen das Gemeinwesen (Jhering) erfüllt. In einer Zeit, in der allgemein über Schattenjustiz zB der Schiedsgerichtsbarkeit breitflächig geklagt wird, wirkt es merkwürdig aus der Zeit gefallen, wenn ein neues nichtöffentliches Verfahren für Verbraucher geschaffen wird.

Die ADR-Verfahren sind ein Import aus den USA. Dort wird zwischenzeitlich aber die Frage aufgeworfen,welche Auswirkung es auf das Rechtsbewusstsein der Bürger hat, wenn sich Unternehmen nicht mehr in öffentlichen Prozessen verteidigen müssen, wenn die Presse nicht mehr über zentrale Fragen des Verbraucherrechts berichten kann, weil das Gerichts-Bashing Wirkung zeigt und die Streitigkeiten in geheime ADR-Verfahren abwandern.

Für ein Rechtssystem sei es – so die Diskussion in den USA – von entscheidender Bedeutung, dass die Gerichte den Zugang zum Recht für jedermann sicherstellen; dass niemand, insbesondere die wirtschaftlich Schwächeren, in einen bazarartigen Verhandlungsprozess ohne öffentliche Kontrolle und Verfahrensgarantien abgedrängt wird.

An vielen Stellen droht unserem Zivilprozessrecht derzeit die klare Orientierung abhanden zu kommen. Trotz Kapitalanlegermusterverfahrensgesetz ist derzeit weder der kollektive Rechtsschutznoch die Behandlung komplexer Verfahren befriedigend gelöst.

Gerade (noch) zur rechten Zeit hat sich der Deutsche Anwaltstag ein wichtiges Thema vorgenommen, das alle angeht.

P.S. Auf dem Anwaltstag sind Studenten und Referendare zu Sonderkonditionen (25 EUR für die Dauerkarte) willkommen. Anmelden unter www.anwaltstag.de.

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