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Bewertung von Verbindlichkeiten in Fällen der Unternehmensinsolvenz

Dr. Hans-Jürgen Hillmer

OFD Nordrhein-Westfalen, Kurzinformation vom 22.9.2017

 

Verbindlichkeiten dürfen nicht (mehr) passiviert werden, wenn sie keine wirtschaftliche Belastung darstellen. Eine solche wirtschaftliche Belastung fehlt dann, wenn der Schuldner mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mehr mit einer Inanspruchnahme durch den Gläubiger rechnen muss. Das Vorliegen eines vom Nennwert abweichenden Wertansatzes ist grundsätzlich eine Einzelfallentscheidung. Allein in der Beantragung oder Zustimmung des Gläubigers zur Liquidation einer Tochterkapitalgesellschaft ist kein konkludenter (schlüssiger) Forderungsverzicht zu sehen.


 

Praxis-Info!

 

 

Problemstellung

Die handels- und steuerrechtlichen Pflichten zur Buchführung bleiben in Insolvenzfällen grundsätzlich unberührt (vgl. § 155 Abs. 1 InsO = Insolvenzordnung) und umfassen auch nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens die Verpflichtung zur ordnungsmäßigen Bilanzaufstellung und Bewertung. Somit sind die grundsätzlichen Bilanzierungs- und Bewertungsvorschriften des Handels- und Steuerrechts im Insolvenzverfahren unverändert anzuwenden.

In der Praxis stellt sich häufig die Frage, ob Verbindlichkeiten des Insolvenzschuldners abweichend vom Nennwert mit dem niedrigeren Wert zu bewerten sind. Ein geänderter Wertansatz würde dann zu einem entsprechenden Gewinnausweis führen, sofern die Voraussetzung eines rechtswirksamen Forderungsverzichts angenommen werden kann.

 

 

Lösung

Die Finanzverwaltung hebt in ihrer vom 22.9.2017 stammenden Kurzinformation auf die ständige BFH-Rechtsprechung ab, wonach Verbindlichkeiten nicht (mehr) passiviert werden dürfen, wenn sie keine wirtschaftliche Belastung darstellen. Eine solche wirtschaftliche Belastung fehlt laut BFH-Entscheidung vom 22.11.1988 (VIII R 62/85, BStBl. II 1989, 359) dann, wenn der Schuldner mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mehr mit einer Inanspruchnahme durch den Gläubiger rechnen muss. Im Urteil vom 9.2.1993 (VIII R 29/01, BStBl. II 1993, 747) hat der BFH weiterhin entschieden, allein die Tatsache, dass der Schuldner die Verbindlichkeit mangels eines ausreichenden Vermögens nicht oder nur teilweise tilgen kann, begründe noch nicht die Annahme einer fehlenden wirtschaftlichen Belastung. Vor diesem Hintergrund geht die OFD wie folgt ins Detail:

  1. Zu dem Zeitpunkt, zu dem das Vorliegen eines Insolvenzgrunds (vgl. § 16 InsO) zu prüfen ist, und auch während des Insolvenzverfahrens ist von einer wirtschaftlichen Belastung des Schuldners in Höhe des Nennbetrags der Verbindlichkeit auszugehen. Da die Insolvenzgläubiger ihre restlichen Forderungen zudem auch nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens noch geltend machen können (§ 201 Abs. 1 InsO), ist insoweit eine wirtschaftliche Belastung des Schuldners auch nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens weiterhin anzunehmen.
  2. Ob Verbindlichkeiten nach der Auflösung (vgl. § 60 GmbHG, § 262 AktG) einer in der Liquidation befindlichen Kapitalgesellschaft bei der Bewertung des Abwicklungsendvermögens weiterhin mit dem Nennwert zu erfassen sind oder ausnahmsweise außer Ansatz bleiben, weil sie definitiv keine wirtschaftliche Belastung (mehr) darstellen, ist unter Berücksichtigung aller Umstände des jeweiligen Einzelfalls zu entscheiden (vgl. dazu BFH vom 5.2.2014, I R 34/12, BFH/NV 2014, 1014).
  3. Allein in der Beantragung oder Zustimmung des Gläubigers zur Liquidation einer Tochterkapitalgesellschaft ist kein konkludenter (schlüssiger) Forderungsverzicht zu sehen. Es ist unverändert von einer wirtschaftlichen Belastung durch die Verbindlichkeit beim Schuldner auszugehen. Diese entfällt erst, wenn bei objektiver Würdigung der Verhältnisse angenommen werden kann, dass der Gläubiger seine Forderung nicht mehr geltend machen wird.
  4. Das tatsächliche Erlöschen der Schuld im Rahmen des Insolvenzverfahrens ist gewinnwirksam. Daher kann eine erfolgswirksame Minderung der Verbindlichkeiten erfolgen, wenn ein Gläubiger wirksam auf seine Forderung verzichtet. Ebenso kann die Minderung erfolgen, soweit nach rechtskräftiger Bestätigung des keine abweichenden Regelungen enthaltenden Insolvenzplans durch das Gericht die Forderungen nachrangiger Gläubiger erlöschen bzw. eine Befreiung gegenüber nicht nachrangigen Gläubigern im gestaltenden Teil des Insolvenzplans vorgesehen ist.
  5. Ein gewinnwirksamer Wegfall betrieblicher Verbindlichkeiten kann sich auch dann ergeben, wenn die Regelungen über die Restschuldbefreiung für natürliche Personen (§ 286 ff. InsO) greifen. Mit Erteilung der Restschuldbefreiung erlöschen die Verbindlichkeiten. Die abschließende Entscheidung hierüber obliegt dem Insolvenzgericht (vgl. § 300 Abs. 1 InsO). Ein Buchgewinn, der aufgrund der Erteilung einer Restschuldbefreiung entsteht, ist grundsätzlich im Jahr der Rechtskraft des gerichtlichen Beschlusses zu erfassen. Wurde der Betrieb jedoch bereits vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens aufgegeben, liegt ein in das Jahr der Betriebsaufgabe zurückwirkendes Ereignis vor (vgl. BFH vom 13.12.2016, X R 4/15, BStBl. II 2017, 786).


 

 

Praxishinweise:

  • Auf einen infolge einer Restschuldbefreiung bis einschließlich 8.2.2017 entstandenen oder zurückwirkenden Gewinn ist nach Angaben der OFD das zur ertragsteuerlichen Behandlung von Sanierungsgewinnen ergangene BMF-Schreiben vom 27.3.2003 (IV A 6 – S 2140 – 8/03, BStBl. I 2003, 240) entsprechend anzuwenden. Dieses BMF-Schreiben (der sog. Sanierungserlass) ist allerdings vom BFH mit Aufsehen erregendem Beschluss vom 28.11.2016 (GrS 1/15) verworfen worden, weil er gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung verstößt. Deshalb kam es mit dem Gesetz gegen schädliche Steuerpraktiken im Zusammenhang mit Rechteüberlassungen vom 27.6.2017 (BGBl. I 2017, 2074; BStBl. I 2017, 1202) zu einer gesetzlichen Neuregelung.
  • Nach dem neuen § 3a Abs. 5 EStG sind ab dem 9.2.2017 entstandene Gewinne aus einer Restschuldbefreiung eigentlich grundsätzlich begünstigt. Das Inkrafttreten des Gesetzes und damit dessen Anwendung wurden aber von dem Beschluss der EU-Kommission abhängig gemacht, dass die Neuregelungen zur Behandlung von Sanierungserträgen keine verbotenen staatlichen Beihilfen darstellen. Dieser Beschluss steht immer noch aus und wird mittlerweile auch für 2017 nicht mehr erwartet, so die Einschätzung maßgebender Insolvenzsteuerrechtsexperten anlässlich des Insolvenzverwalter-Kongresses 2017, der am 16./17.11.2017 in Berlin stattfand. Es mehren sich die Zweifel, ob der den Anwendungsvorbehalt aufhebende Beschluss der EU-Kommission überhaupt noch kommen wird.
  • Mittlerweile hat der BFH seine Auffassung verschärft: Der Sanierungserlass ist demnach auch nicht auf Altfälle anwendbar. Hintergrund: Das BMF hatte die Finanzämter nach der fundamentalen BFH-Rüge im Beschluss vom 28.11.2016 daraufhin im April 2017 angewiesen, den sog. Sanierungserlass in allen Fällen, in denen die an der Sanierung beteiligten Gläubiger bis (einschließlich) 8.2.2017 (Zeitpunkt der Veröffentlichung des BFH-Beschlusses) endgültig auf ihre Forderungen verzichtet haben, gleichwohl weiterhin uneingeschränkt anzuwenden (BMF-Schreiben vom 27.4.2017, BStBl. I 2017, 741). Der BFH hat nun mit Urteilen vom 23.8.2017 (I R 52/14 und X R 38/15, vgl. BC 2017, 502 f., Heft 11) entschieden, dass diese Anordnung des BMF in gleicher Weise gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung verstößt – wie der sog. Sanierungserlass selbst. Eine solche Regelung hätte nach Auffassung des BFH nur der Gesetzgeber treffen können.
  • Mit Insolvenzfällen vertraute Buchhaltungsexperten wissen, dass das Insolvenzsteuerrecht und die damit verbundenen Bewertungspflichten ein Höchstmaß an abstraktem Denkvermögen erfordern. Kaum ein anderer Bereich ist so schwer verständlich wie die hier anstehenden Spezialfragen. Außer den Restrukturierungsberatern und den Insolvenzverwaltern, denen das Geschäft „mangels Masse“ wegbricht, freuen sich daher alle Beteiligten über die seit Jahren stark sinkenden Zahlen der Unternehmensinsolvenzen, die eine Befassung mit dieser schwierigen Rechtsmaterie seltener werden lassen.
  • Anlässlich des oben genannten Kongresses der Insolvenzverwalter beklagte der VID-Vorsitzende Christoph Niering zum wiederholten Male, dass die Sanierung von Krisenunternehmen durch ein komplexes und nicht auf die Sanierung ausgerichtetes Steuerrecht nachhaltig behindert werde. Sein Appell: „Mit der gesetzlichen Regelung zur Steuerfreiheit des Sanierungsgewinns vom 26.4.2017 wurde ein erster Schritt in die richtige Richtung vollzogen. Weitere gesetzliche Maßnahmen sind jedoch zwingend erforderlich, damit Unternehmen und Arbeitsplätze erhalten werden können.“
  • Dem bleibt eigentlich nur noch hinzuzufügen, dass eben auch dieser erste Schritt noch auf EU-Ebene „wackelt“ und dass betroffene Unternehmen im Münchener BFH-Störfeuer zwischenzeitlich einen „Genickschuss“ erleiden könnten. Vermutungen, dass der bisherige Finanzminister aus diesem Grund „fahnenflüchtig“ geworden sein könnte und nun bundestagspräsidiale Privilegien mehr schätzt als das vom BFH massiv kritisierte BMF-Alltagsgeschäft, sind aber hier frei erfunden.


 

Dipl.-Kfm. Dr. Hans-Jürgen Hillmer, Coesfeld

 

BC 12/2017

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