Bundesverfassungsgerichts-Urteil vom 9.12.2008, 2 BvL 1/07 und 2/07 sowie 2 BvL 1/08 und 2/08
- § 9 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 EStG in der ab dem Jahre 2007 geltenden Fassung ist mit Artikel 3 Abs. 1 des Grundgesetzes unvereinbar.
- Bis zu einer gesetzlichen Neuregelung ist § 9 Abs. 2 Satz 2 EStG – im Wege vorläufiger Steuerfestsetzung (§ 165 AO) sowie entsprechend im Lohnsteuerverfahren – hinsichtlich der Einkommensteuervorauszahlungen und in sonstigen Verfahren, in denen das zu versteuernde Einkommen zu bestimmen ist, mit folgender Maßgabe anzuwenden: Die tatbestandliche Beschränkung auf „erhöhte“ Aufwendungen entfällt „ab dem 21. Entfernungskilometer“.
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Problemstellung
Nach dem Wortlaut des § 9 Abs. 2 Satz 1 EStG sind Aufwendungen des Arbeitnehmers für die Wege zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte seit 1.1.2007 keine Werbungskosten mehr. Der Gesetzgeber ging davon aus, dass der Weg von und zur regelmäßigen Arbeitsstätte in die private Sphäre des Arbeitnehmers fällt (sog. Werkstorprinzip – „die Arbeit beginnt am Werkstor“). Allerdings konnten zur Abgeltung erhöhter Aufwendungen für die Wege zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte ab dem 21. Entfernungskilometer für jeden Arbeitstag, an dem der Arbeitnehmer seine regelmäßige Arbeitsstätte aufsucht, für jeden vollen Entfernungskilometer eine Entfernungspauschale von 0,30 € bis zu einem Höchstbetrag von 4.500 € (bei Benutzung eines Pkw der Höhe nach unbegrenzt) wie Werbungskosten angesetzt werden (§ 9 Abs. 2 Satz 2 EStG).
Im Ergebnis führte das Zusammenspiel der Sätze 1 und 2 im § 9 Abs. 2 EStG zu folgendem Ergebnis: Für die ersten 20 Entfernungskilometer zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte wurde keine Entfernungspauschale gewährt.
Lösung
Das Bundesverfassungsgericht hat nunmehr entschieden: Der Gesetzgeber darf – auch unter Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Gesichtspunkte – davon ausgehen, dass es sich bei den Fahrtkosten zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte um „gemischt“ (privat und beruflich) veranlasste Aufwendungen handelt, für deren steuerliche Berücksichtigung dem Gesetzgeber erhebliche Typisierungs- und Vereinfachungsspielräume zustehen.
Für die Einführung des sog. Werkstorprinzips in Verbindung mit der 20-km-Grenze fehlt es jedoch an einer hinreichenden sachlichen Begründung. Als hinreichende sachliche Rechtfertigungsgründe werden vom Bundesverfassungsgericht außerfiskalische Förderungs- und Lenkungsziele sowie Typisierungs- und Vereinfachungserfordernisse anerkannt. Der rein fiskalische Zweck staatlicher Einnahmeerhöhung genügt hingegen nicht.
Das Bundesverfassungsgericht hat den Gesetzgeber verpflichtet, rückwirkend auf den 1.1.2007 die Verfassungswidrigkeit durch Umgestaltung der Rechtslage zu beseitigen. Bis zur gesetzlichen Neuregelung ist die Pauschale von 0,30 € je vollen Entfernungskilometer – vorläufig und ohne die Beschränkungen auf Entfernungen ab dem 21. Entfernungskilometer – anzuwenden.
Praxishinweise: - Im Anschluss an die Veröffentlichung des Urteils hat die Bundesregierung bekannt gegeben: Die Entfernungspauschale wird für die Jahre 2007 bis 2009 wieder ab dem 1. Entfernungskilometer steuerlich berücksichtigt. Zu einer gesetzlichen Neuregelung wird es frühestens ab dem Kalenderjahr 2010 kommen.
- Die Aufwendungen für die Wege zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte werden demnach bei den Arbeitnehmern rückwirkend ab 2007 wieder ab dem 1. Entfernungskilometer mit 0,30 € als Werbungskosten berücksichtigt. Die Finanzverwaltung will die – möglichst automatisiert durchgeführte – Korrektur der bereits versandten Einkommensteuerbescheide 2007 bis 31.3.2009 abgeschlossen haben.
- Es bleibt allerdings auch nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts dabei: Durch die Entfernungspauschale von 0,30 € je vollen Entfernungskilometer sind sämtliche Aufwendungen abgegolten, die durch die Wege zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte veranlasst sind (§ 9 Abs. 2 Satz 10 EStG). Parkgebühren, Unfallkosten, tatsächliche Aufwendungen für öffentliche Verkehrsmittel können daher weder zusätzlich zur noch anstelle der Entfernungspauschale steuerlich geltend gemacht werden.
- Der geldwerte Vorteil aus der Gestellung eines Firmenwagens für die Fahrten zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte sowie zusätzlich vom Arbeitgeber gezahlte Fahrtkostenzuschüsse für Fahrten zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte können bekanntlich bis zur Höhe der Entfernungspauschale mit 15% pauschal versteuert werden (§ 40 Abs. 2 Satz 2 EStG).
- Nachfolgend sollen die steuer- und sozialversicherungsrechtlichen Folgerungen für die Jahre 2007 bis 2009 aufgezeigt werden.
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Pauschalierung 2007 bis 2009
- Pauschalierung ab Januar 2009 mit 15%: Ab Januar 2009 kann der Arbeitgeber den geldwerten Vorteil aus der Gestellung eines Firmenwagens für die Fahrten zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte sowie für zusätzlich gezahlte Fahrtkostenzuschüsse für Fahrten zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte bis zur Höhe der Entfernungspauschale – also wieder ab dem ersten Entfernungskilometer in Höhe von 0,30 € – mit 15% pauschal versteuern. Die Pauschalversteuerung führt insoweit zur Sozialversicherungsfreiheit (§ 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SvEV).
- Pauschalierung rückwirkend ab 2008 mit 15%: Die vorstehenden Ausführungen (Pauschalierung ab dem ersten Entfernungskilometer) gelten entsprechend für die Lohnzahlungszeiträume 2008, sofern der Arbeitgeber – was der Regelfall ist – für den Arbeitnehmer noch keine Lohnsteuerbescheinigung an die Finanzverwaltung übermittelt bzw. ausgestellt hat. Eine gesonderte Zustimmung des Betriebsstättenfinanzamts zur Pauschalversteuerung ist nicht erforderlich und wird auch nicht erteilt. Diese Pauschalversteuerung führt auch zur Sozialversicherungsfreiheit, sofern dem Arbeitnehmer für 2008 keine entgeltabhängigen Leistungen gewährt worden sind. Eine Verrechnung des Erstattungsanspruchs durch den Arbeitgeber mit zu zahlenden Beiträgen ist zulässig (Verlautbarung der Spitzenverbände der Sozialversicherungsträger vom 12.12.2008).
- Pauschalierung rückwirkend ab 2007 mit 15%: Die Finanzverwaltung prüft zurzeit [Zeitpunkt der Abfassung dieser Steuermeldung: 17.12.2008], ob entsprechend der Regelung für 2008 auch für 2007 eine nachträgliche Pauschalierung ab dem ersten Entfernungskilometer mit 15% möglich ist (Pressemitteilung des BMF vom 16.12.2008). Das Ergebnis dieser Prüfung soll möglichst noch vor Weihnachten 2008 veröffentlicht werden. Hintergrund: Gemäß dem Einkommensteuergesetz ist nach Ablauf des Kalenderjahres eine Änderung des Lohnsteuerabzugs nur bis zur Übermittlung oder Ausschreibung der Lohnsteuerbescheinigung zulässig (§ 41c Abs. 3 Satz 1 EStG). Meines Erachtens bezieht sich dies jedoch auf den individuellen Lohnsteuerabzug beim Arbeitnehmer anhand der Lohnsteuerkarte. Da es sich bei der Lohnsteuer-Anmeldung um eine Steueranmeldung handelt, kann der Arbeitgeber auch heute noch für 2007 eine Pauschalsteuer von 15% z.B. für Fahrtkostenzuschüsse anmelden, sofern nicht aufgrund einer Lohnsteuer-Außenprüfung der Vorbehalt der Nachprüfung für das Jahr 2007 oder für einzelne Monate dieses Jahres aufgehoben worden ist. Außerdem muss der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer eine Bescheinigung (ein „Blatt Papier“) geben, in der er angibt, in welcher Höhe er die Pauschalversteuerung mit 15% vorgenommen hat. Der Arbeitnehmer kann dann in dieser Höhe bei seinem Wohnsitzfinanzamt eine Herabsetzung des Bruttoarbeitslohns geltend machen. Gleichzeitig wird allerdings der pauschal versteuerte Fahrtkostenzuschuss auf die Entfernungspauschale angerechnet (§ 40 Abs. 2 Satz 3 EStG). Auch diese Pauschalversteuerung führt zur Sozialversicherungsfreiheit, sofern dem Arbeitnehmer für 2007 keine entgeltabhängigen Leistungen gewährt worden sind. Eine Verrechnung des Erstattungsanspruchs durch den Arbeitgeber mit zu zahlenden Beiträgen ist zulässig (Verlautbarung der Spitzenverbände der Sozialversicherungsträger vom 12.12.2008).
Dipl.-Finanzwirt Jürgen Plenker
Gemäß dem BMF-Schreiben vom 30.12.2008 (IV C 5 – S 2351/08/10005) dürfen Arbeitgeber für alle nach dem 31.12.2006 beginnenden Lohnzahlungszeiträume eine Pauschalierung (nach § 40 Abs. 2 Satz 2 EStG) bereits ab dem ersten Entfernungskilometer vornehmen. Dies gilt auch, wenn die Lohnsteuerbescheinigung (§ 41b EStG) für das Jahr 2007 oder 2008 bereits übermittelt oder erteilt worden ist: - Nach rückwirkend durchgeführter Pauschalierung hat der Arbeitgeber eine Bescheinigung für den Arbeitnehmer auszustellen (für Zwecke einer eventuellen Änderung der Einkommensteuerveranlagung des Arbeitnehmers; entsprechende Korrektur des Arbeitslohns). Eine bereits übermittelte oder erteilte Lohnsteuerbescheinigung darf nicht geändert werden.
- Die infolge der (rückwirkenden) Pauschalierung erstatteten Sozialversicherungsbeiträge (Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteil) sind grundsätzlich in der Lohnsteuerbescheinigung des Jahres der Erstattung der Beiträge zu berücksichtigen. Ist die Lohnsteuerbescheinigung für 2008 noch änderbar, kann die Erstattung in dieser Lohnsteuerbescheinigung berücksichtigt werden.
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BRZ 1/2009
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