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Wie die Justiz in der Ukraine dem Angriffskrieg Russlands trotzt

Es ist rund zweieinhalb Jahre her, dass Russland das Staatsgebiet der Ukraine überfallen und das Land mit einem brutalen Angriffskrieg überzogen hat. Wie gelingt Rechtspflege in Kriegszeiten? Ein Erfahrungsbericht aus der Ukraine. Von Yaroslav Levyk

Gleich zu Beginn des Kriegs stand die Frage, warum die Gerichte ihre Arbeit nicht einstellen. Als die russischen Streitkräfte ihre groß angelegte, bewaffnete Invasion der Ukraine begannen, fragten sich Gerichtsangestellte, Anwälte und Bürger, warum sie solchen Gefahren ausgesetzt werden. Die Fragen waren nicht unberechtigt. Heute sehen wir viele zerstörte und beschädigte Gerichtsgebäude, in denen Menschen ums Leben kamen. Die Antwort auf die Frage steht in der ukrainischen Verfassung: Das Recht, sich Schutz suchend an ein Gericht zu wenden, kann nicht einmal durch das Kriegsrecht eingeschränkt werden. Natürlich gibt es während eines Kriegs Unterbrechungen bei der Arbeit der Gerichte – während der Zeit von Luftangriffen oder unter Artilleriebeschuss. Die Erfahrungen der Ukraine haben gelehrt, dass die Wahrnehmung dieser Verfassungsnorm in Friedenszeiten und in Kriegszeiten eine andere ist – auch das Bewusstsein für die Umsetzung dieses Rechts ändert sich im Krieg.

In den ersten sechs Monaten des Kriegs beeinträchtigte die Belastung durch Luftangriffe und Artilleriebeschuss, die keiner in diesem Ausmaß bislang erlebt hatte, wahrscheinlich die Arbeit aller ukrainischen Gerichte. Die Gerichte unterbrachen während der Luftangriffe ihre Arbeit, die meisten Gerichtsmitarbeiter und Besucher hielten sich in Schutzräumen oder in den unteren Stockwerken auf. In dieser Zeit der sehr häufigen Luftangriffe und der Anpassung an die Kriegsbedingungen verhandelten die Gerichte deutlich weniger Fälle als üblich. Der Publikumsverkehr bei Gericht ging ebenso zurück wie die Zahl der mündlichen Verhandlungen und die Anzahl der neu eingehenden Fälle. Verfahren, die schriftlich erledigt werden konnten, hatten in diesem Zeitraum Priorität. Die Gerichte nutzten insoweit die Erfahrungen, die sie nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie gemacht hatten. Mit der Zeit gewöhnten sich jedoch alle an den ständigen Stress. Auch in den späteren Kriegsphasen boten die Richterinnen und Richter bei Luftalarm an, mündliche Verhandlungen zu unterbrechen, und schlugen allen, die dies wünschten, vor, in den Schutzraum zu gehen. Mit der Zeit nutzten immer weniger Menschen diese Möglichkeit. Heute wollen die Beteiligten in den meisten Fällen nicht in den Schutzraum gehen, sondern bestehen darauf, dass ihr Fall weiterverhandelt wird.

Freilich sind die Gerichte, die am nächsten an der aktiven Kampfzone liegen, am stärksten betroffen. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, den Richterinnen und Richtern dieser Gerichte gebührt Anerkennung für ihren Mut und ihre Hingabe. Gespräche unter Richtern verraten viel über ihre Situation. Die Meinungen und Vorstellungen der Richter aus den relativ ruhigen Regionen unterscheiden sich deutlich von den Erfahrungen der Kollegen in nächster Nähe zur Front. Sie sind komplett anders. Ein Richter aus einer von der Front entfernten Gegend fragt dann beispielsweise: „Gehen Sie bei einem Luftangriff in den Luftschutzkeller?“ Ein Richter aus der Frontregion antwortet: „Nein, das tun wir nicht. Wir haben Sandsäcke an den Fenstern, und während des Beschusses haben wir Anhörungen.“ Der eine Richter fragt dann: „Wie geht es Ihnen in Charkiw? Wie kommen Sie zur Arbeit? Es muss schwierig sein, zu arbeiten, wenn man ständig unter Beschuss steht.“ Antwort: „Wissen Sie, es ist genau das Gegenteil. Wenn die Nacht vorbei ist und Sie leben und sind unverletzt, dann gehen Sie mit Freude zur Arbeit, das lenkt von der Realität ab.“ Manchmal sind sogar solche Dialoge zu hören: „Wir arbeiten gerade an dem Programm Gleichstellung der Geschlechter in der Rechtspflege, wir bereiten einen Workshop vor.“ Antwort: „Wir sehen kaum Männer auf der Straße. Die Frauen lernen gerade Traktorfahren. Traktorfahren ist der Steuerung eines Panzers sehr ähnlich.“ Zwar ist der Unterschied zwischen den Regionen in Bezug auf die Anzahl der Bombardierungen teilweise sehr deutlich. Es ist aber selbst in relativ ruhigen Regionen nicht angenehm, wenn im Gerichtssaal die Fensterscheiben wackeln, die Geräusche von Explosionen zu hören sind, Rauch aus Teilen der Stadt aufsteigt und leere Straßen vor einem liegen. Zu Beginn des russischen Angriffskriegs stand die ukrainische Justiz vor Fragen zur Evakuierung von Akten und anderen Materialien der Gerichte aus den frontnahen und vorübergehend besetzten Regionen. Das wurde alles im Notfallmodus erledigt. Kreative Lösungen für den Wechsel von Gerichtsstandorten in umkämpften Regionen, Abordnungen und Versetzungen von Richtern und Gerichtsangestellten mussten gefunden werden.

Gleichzeitig haben die Gerichte ihre Arbeitsweise angepasst. Die Zahl der Videoverhandlungen hat deutlich zugenommen. Die Möglichkeit, einen Fall mit Hilfe von elektronischer Kommunikation zu bearbeiten, ist für die Teilnehmer bequemer und wird recht häufig genutzt. So werden unnötige Gerichtsbesuche vermieden. Außerdem sind die Fluchtbewegungen im Land deutlich zu spüren. So kommen deutlich mehr Parteien und Prozessvertreter aus allen Teilen der Ukraine als früher.

Und dann gibt es natürlich viele neue verfahrensrechtliche Fragen im Zusammenhang mit dem Krieg. Die Gerichte werden vor Fallkonstellationen gestellt, die es bisher nicht gab. Dabei geht es häufig um den Ersatz von Schäden, die durch die russische Aggression entstanden sind. Außerdem gibt es schwierige Fragen der Vollstreckung von Gerichtsentscheidungen in diesen Fällen. Insbesondere geht es dabei um die Verwendung von Vermögenswerten der Russischen Föderation. Mit Einführung des Kriegsrechts kam es auch zu Veränderungen, beispielsweise bei der Anwendung von Verjährungsfristen. In diesem Zusammenhang werden auch verfassungsrechtliche Fragen diskutiert.

Auch darf der Hinweis nicht fehlen, dass sich die Richter an der freiwilligen Hilfe für die ukrainischen Streitkräfte beteiligen. Je nach Gericht und Richter versuchen sie, Kampfeinheiten, Krankenhäuser oder Freiwilligenorganisationen materiell zu unterstützen. Anfangs betrug die Quote 50 Prozent der Richterbezüge – ungeachtet der Militärabgabe, die von allen Bürgern gezahlt wird. Jetzt kann jeder, dem es wichtig ist, so viel wie möglich an bestimmte Militäreinheiten oder für einzelne Projekte spenden, auch an Gerichtsbedienstete, deren Familienangehörige bei den Streitkräften sind.

Wirklich behindert wird die reibungslose Arbeit der Gerichte durch das Fehlen von Strom, beziehungsweise die häufigen Stromausfälle zu verschiedenen Zeiten, durch den regelmäßigen Luftalarm und den Beschuss sowohl tagsüber als auch nachts. Dazu kommen die Unterbesetzung von Gerichten mit Richtern, die Kündigung von Gerichtsmitarbeitern wegen zu hoher Arbeitsbelastung und die Frage der Sicherheit der Familien.

Es ist schwierig, sich immer wieder daran zu erinnern, dass es nicht der Normalzustand ist, in dem sich die Ukraine befindet. Es ist mit Friedenszeiten nicht zu vergleichen. Wer aber manchmal zum Entspannen und Erholen in einen Sportverein oder ein Schwimmbad geht und dort Menschen mit Amputationen sieht, wer an einem Militärkrankenhaus vorbeikommt oder mit den Angehörigen von Soldaten spricht, versteht schnell, dass die eigenen Probleme einfach lächerlich sind.

Und dann ist da noch eine weitere Beobachtung in Zeiten des Kriegs. In der Vergangenheit hatten Beschwerden und Unzufriedenheit mit der Arbeit der Gerichte und insbesondere der Richter, die von unseren „regelmäßigen Kunden“ geäußert wurden, eine negative Wirkung. Sie haben uns Richter genervt. Der Mangel an Verständnis, die Unkenntnis der Situation und Missverständnisse über die Arbeit der Gerichte bei diesen Bürgern waren sehr stark spürbar. Wenn Richter heute solche Kritik sowohl im Gericht als auch in der Öffentlichkeit lesen oder hören, verstehen sie, dass dies ein gutes Zeichen ist. Wenn sich die Menschen beschweren, haben sie keine Angst, ihre Meinung zu äußern, auch wenn diese manchmal nur ihren eigenen Vorstellungen über bestimmte Prozesse entspricht. Aber sie haben keine Angst, sie fühlen sich sicher, wenn sie ihren Standpunkt artikulieren können. Zu Beginn der groß angelegten Invasion Russlands, während der ersten sechs bis zwölf Monate, gab es so etwas nicht. Es herrschte Angst. Die Menschen hatten Angst, ihre Häuser zu verlassen, auf die Straße zu gehen oder vor Gericht zu gehen.

Wie sieht das Ende des Kriegs aus? Da gibt es mehrere Ebenen zu betrachten. Die strafrechtliche umfasst ein Tribunal für die Schuldigen. Dabei ist nicht nur an eine Person, das russische Staatsoberhaupt, zu denken. Es gibt viele, die Schuld auf sich geladen haben. Und dort, wo ein Verbrechen nicht wirklich anerkannt und angemessen bestraft wurde, kam es später zur Wiederholung des kriminellen Verhaltens. Aber wir müssen auch an die Wiedergutmachung der verursachten Schäden und die Wiederherstellung des Zerstörten denken.

Es wird ein langer, ein schmerzhafter Weg. Oft ziehen Trauerzüge am Gebäude unseres Gerichts vorbei, die gefallene Soldaten zum Ehrenfriedhof bringen. Gerichtsangestellte und Richter gehen solchen Prozessionen draußen entgegen und knien nieder, um gemeinsam mit den Passanten ihren Respekt zu bekunden.

Yaroslav Levyk ist Richter am Oberlandesgericht (Apelyatsiynyy Sud) Lviv und Dozent an der Nationalen Richterschule der Ukraine.
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