Am 26. September hat der Bundestag das Gesetz zur Einführung eines Leitentscheidungsverfahrens beim Bundesgerichtshof beschlossen. Das Gesetz wird jedoch nur zu einer vergleichsweise geringen Entlastung der Ziviljustiz führen. Erforderlich ist vielmehr ein schlüssiges Gesamtkonzept zur Bewältigung von Massenverfahren beziehungsweise zur Modernisierung des Zivilprozesses. Von Matthias Engelhardt
Massenverfahren beschäftigen die deutsche Ziviljustiz weiterhin in großem Umfang und binden erhebliche personelle Ressourcen. Vor diesem Hintergrund hatte der Deutsche Richterbund (DRB) bereits im Mai 2022 eine Initiativstellungnahme veröffentlicht, in der konkrete Vorschläge zur besseren Bewältigung von Massenverfahren vorgestellt wurden. Das nun beschlossene Leitentscheidungsverfahren beim Bundesgerichtshof bleibt deutlich hinter den Erwartungen der Praxis zurück. Zwar kann der Bundesgerichtshof nun ein bei ihm anhängiges Massenverfahren zu einem Leitentscheidungsverfahren bestimmen, welches möglichst viele offene Rechtsfragen beinhaltet, die die Instanzgerichte ebenfalls beschäftigen. Diese können die bei ihnen anhängigen Parallelverfahren bis zur Leitentscheidung des Bundesgerichtshofs grundsätzlich aussetzen und sich anschließend an der Leitentscheidung orientieren. Eine Leitentscheidung ergeht auch dann, wenn die Parteien die Revision zurücknehmen oder sich das Revisionsverfahren auf andere Weise erledigt. Damit wird aber nur eine Forderung des DRB umgesetzt, nämlich die sogenannte Flucht in die Revisionsrücknahme beziehungsweise in die sonstige Erledigung zu unterbinden; die Taktik vieler an Massenverfahren beteiligter Parteien, ihnen nachteilige höchstrichterliche Entscheidungen zu verhindern, wird daher in Zukunft nicht mehr aufgehen.
Allerdings setzt das Leitentscheidungsverfahren zu spät an. Denn das Revisionsverfahren, welches der Bundesgerichtshof als leitentscheidungstauglich identifiziert, muss erst einmal durch die Instanzen nach Karlsruhe gelangen. Bis dorthin vergehen durchschnittlich mehr als zwei Jahre, in denen die Instanzgerichte landauf, landab gleich gelagerte Verfahren entscheiden müssen, ohne dass sie diese aussetzen können. Sie verkommen also weiterhin zum „Durchlauferhitzer“.
Der DRB hatte daher vorgeschlagen, den Instanzgerichten die Möglichkeit zu eröffnen, einzelne Massenverfahren dem Bundesgerichtshof vorlegen zu können. Dies würde im Gegensatz zum derzeitigen Regelungskonzept zu deutlich schnelleren höchstrichterlichen Entscheidungen führen mit der Folge, dass in den Instanzgerichten verbliebene Verfahren mit wesentlich weniger Aufwand zu führen wären. Zudem würde in vielen Fällen keine Klage erhoben werden, da bereits zu einem frühen Zeitpunkt Rechtsklarheit und -sicherheit herrschen würde.
Zumindest konnte im parlamentarischen Verfahren – auch aufgrund der beharrlichen Kritik des DRB – ein grundlegender Konstruktionsfehler des Regierungsentwurfs beseitigt werden. Zunächst hätten die Instanzgerichte nach § 148 Abs. 4 ZPO-E nämlich nur dann die Aussetzung anordnen können, wenn die Parteien zugestimmt hätten. Da aber in Massenverfahren in der Regel mindestens eine Partei aus finanziellen oder prozesstaktischen Gründen nicht mit einer Aussetzung einverstanden ist, wären die Instanzgerichte gehalten gewesen, vergleichbare Verfahren bis zum Vorliegen einer Leitentscheidung weiter zu betreiben. Zwar konnte sich der DRB mit seiner Forderung, die Aussetzung in das pflichtgemäße Ermessen des Gerichts zu stellen, nicht gänzlich durchsetzen. Der verabschiedete Kompromiss der Koalitionsfraktionen sieht aber wenigstens vor, dass die Aussetzung nur dann zu unterbleiben hat, wenn eine Partei der Aussetzung widerspricht und gewichtige Gründe glaubhaft macht, die einer Aussetzung entgegenstehen. Dies können beispielsweise erhebliche wirtschaftliche Gründe wie die drohende Insolvenz einer Partei sein, aber auch persönliche Gründe, wie zum Beispiel das hohe Alter einer der Parteien. Die Dauer der Aussetzung bleibt nach dem Vorbild des § 149 Absatz 2 Satz 1 ZPO auch weiterhin zeitlich begrenzt.
Auch an anderer Stelle wurde eine Forderung des DRB aufgegriffen, der sich für die Einführung eines beschleunigten Online-Verfahrens für standardisierte Fälle, etwa im Bereich der Fluggastrechte, ausgesprochen hatte. Anfang September 2024 hat die Bundesregierung den Gesetzentwurf zur Entwicklung und Erprobung eines Online-Verfahrens in der Zivilgerichtsbarkeit beschlossen. Zur geplanten Erprobung und Evaluierung des Online-Verfahrens soll die ZPO um ein weiteres Buch ergänzt werden, das die Klageeinreichung in digitaler (und strukturierter) Form in Zivilsachen vor ausgewählten Amtsgerichten ermöglicht.
Ohnehin eröffnet die fortschreitende Digitalisierung ein erhebliches Potenzial zur Bewältigung von Massenverfahren. So wie bestimmte Anwaltskanzleien computergenerierte Schriftsätze in Massenverfahren erstellen, müssen die Gerichte in die Lage versetzt werden, sich der Digitalisierung beziehungsweise künstlicher Intelligenz bedienen zu können. Dies bedeutet Unterstützung nicht nur bei der Aufbereitung des Prozessstoffes, sondern auch bei der Sachentscheidung als solcher. Der Oberlandesgerichtsassistent OLGA in Stuttgart oder der Urteilskonfigurator FraUKe am Amtsgericht Frankfurt am Main sind Beispiele. Auch am Amtsgericht Erding läuft ein Fluggastrechteverfahren betreffendes Modellprojekt.
Erste Erfahrungen im Reallabor Basisdokument
Weiter müssen die Voraussetzungen für eine (verpflichtende) Strukturierung des Parteivortrags geschaffen werden. Hunderte Seiten lange Schriftsätze – teils ohne Bezug zum konkreten Verfahren – sind in Massenverfahren keine Seltenheit. Erste Erfahrungen hierzu sind beispielsweise dem Abschlussbericht des von Bayern und Niedersachsen initiierten Forschungsprojekts „Reallabor Basisdokument“ zu entnehmen (dazu Seiten 398 ff. in dieser Ausgabe). Manchmal kann man sich des Eindrucks jedoch nicht erwehren, dass viele kleine Initiativen zu einem großen Ganzen zusammengefasst werden müssten. Das Leitentscheidungsverfahren stellt nur einen kleinen Baustein bei der Bewältigung von Massenverfahren dar. Deutlich besser wäre es gewesen, auch für die Instanzgerichte eine Vorlagemöglichkeit zu schaffen. Als vermittelnde Lösung wäre es denkbar, nur den Oberlandesgerichten eine Vorlage zu ermöglichen. Denn diese haben einen guten Überblick über die in ihrem Bezirk anhängigen Verfahren mit grundsätzlichen Rechtsfragen und werden angesichts ihrer eigenen Fachkompetenz nicht vorschnell vorlegen. Ebenso wird der Vorschlag der OLG-Präsidentinnen und -Präsidenten zu diskutieren sein, ob ein attraktiver und effektiver kollektiver Rechtsschutz zur Bewältigung von Massenverfahren etabliert werden sollte. Auch sind weder das Potenzial der Digitalisierung noch die Möglichkeiten der Strukturierung des Parteivortrags ausgeschöpft. Es bleibt daher noch viel zu tun, spätestens anlässlich der nach fünf Jahren vorgesehenen Evaluierung des nun beschlossenen Gesetzes.