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Amtsgerichte künftig bis 8000 Euro zuständig

Die Justizminister der Länder wollen die Zuständigkeit der Amtsgerichte für erstinstanzliche Zivilverfahren deutlich erweitern. Zudem dringen die Länder auf eine Reparatur der handwerklich verunglückten Strafverschärfungen gegen Kinderpornografie und sehen Änderungsbedarf bei den Gesetzesplänen des Bundesjustizministers gegen digitale Gewalt. Von Sven Rebehn
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Um eine bürger- und ortsnahe Justiz zu erhalten, müssten die Aufgabenbereiche der Amtsgerichte jetzt ausgeweitet werden, argumentiert die Justizministerkonferenz (JuMiKo). Ein weiteres Zuwarten würde angesichts der immer noch hohen Inflation rasch zu einer weiteren erheblichen Schwächung der Amtsgerichte führen, so die Sorge. Um die seit der letzten Anhebung im Jahr 1993 bis Ende 2022 eingetretene Geldentwertung vollständig auszugleichen, müsste die Streitwertgrenze bereits auf rund 8400 Euro angehoben werden. Mit einer neuen Grenze von 8000 Euro soll der allgemeine Preisauftrieb nun größtenteils nachvollzogen werden. Damit könne den rückläufigen Verfahrenszahlen der Amtsgerichte entgegengewirkt werden, betont die JuMiKo. Nach dem Bericht einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe sind die Eingangszahlen in Zivilverfahren vor den Amtsgerichten zwischen 1993 und 2020 um mehr als 40 Prozent geschrumpft. Eine flankierende Reform der Regelungen zum Anwaltszwang halten die Justizministerinnen und -minister nicht für notwendig. Das bisherige klare System des § 78 ZPO, wonach die Notwendigkeit der Vertretung durch einen Rechtsanwalt allein vom sachlich zuständigen Gericht abhängt, habe sich bewährt und solle beibehalten werden.

Ferner spricht die Konferenz sich für eine streitwertunabhängige Zuständigkeit der Landgerichte bei Streitigkeiten aus Heilbehandlungen sowie für presserechtliche Auseinandersetzungen und für Vergabesachen aus. Die Amtsgerichte sollen künftig unabhängig vom Streitwert für Verfahren um Fluggastrechte und Nachbarrechte zuständig sein. Die Länder wollen die Spezialisierung der Gerichte weiter verbessern, damit die Justiz die betroffenen Verfahren noch effizienter bearbeiten kann. Um die bislang nicht eindeutig abschätzbaren Folgen der Gesetzespläne für den künftigen Personalbedarf und die Gerichtsorganisation der Amts- und Landgerichte berücksichtigen zu können, empfiehlt die Justizministerkonferenz längere Übergangsfristen bis zum Inkrafttreten der neuen Zuständigkeiten. Die Kommission der Landesjustizverwaltungen für Fragen der Personalbedarfsberechnung wird aufgefordert, sich „frühzeitig“ mit den Folgen für den Personalbedarf zu befassen, damit der tatsächliche Arbeitsaufwand auch weiterhin zutreffend in den Berechnungen nach PEBB§Y abgebildet wird. Ziel der Reform sei nicht, den Personaleinsatz in den Gerichten zu senken, sondern die Justiz in der Fläche zu stärken, unterstreichen die Ministerinnen und Minister.

Reparatur der verfehlten Reform bei Kinderpornografie

Auch auf die Strafjustiz kommen nach dem Willen der Justizministerkonferenz wichtige Gesetzesänderungen zu. So haben die Länder bei der Frühjahrskonferenz jetzt ihre Aufforderung an den Bundesjustizminister wiederholt, die in Teilen verunglückte Strafverschärfung der großen Koalition im Kampf gegen Kinderpornografie zu korrigieren. Konkret fordern sie Marco Buschmann (FDP) auf, die Tatbestände des § 184b Absatz 1 Satz 1 und Absatz 3 StGB (Verbreiten, Erwerb, Besitz von Kinderpornografie) vom Verbrechen zu einem Vergehen herunterzustufen, wofür sich auch der Deutsche Richterbund bereits ausgesprochen hat. Denn die geltende Rechtslage macht es unmöglich, auf jeden Einzelfall noch abgestuft mit einer tat- und schuldangemessenen Strafe reagieren zu können. In der Praxis hätten sich zahlreiche Fallgestaltungen gezeigt, die zwar ohne Zweifel strafwürdig seien, in denen eine zwingende Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr aber nicht schuldangemessen erscheine.

Als Beispiele aus der Praxis weisen die Länder auf die nicht seltenen Fälle hin, in denen Eltern auf dem Handy ihres strafunmündigen Kindes im Klassenchat ein kinderpornografisches Bild entdecken und es an die Klassenleitung weiterleiten, um das Geschehen aufzuklären. Nach den Erfahrungen der Strafverfolger werden kinderpornografische Dateien im Zeitalter der flüchtigen Smartphone-Kommunikation zudem häufig unbedacht zwischen Kindern und Jugendlichen sowie Heranwachsenden und jungen Erwachsenen ausgetauscht. Inkriminierte Dateien befinden sich auf zahlreichen Geräten, ohne dass die Bilder im Internet gesucht oder vom Versender angefordert worden wären. Es dürfte aber kaum das Ziel der damaligen Gesetzesänderung gewesen sein, auch für diese Fälle eine Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr verhängen zu müssen. Die Länder sprechen sich deshalb dafür aus, die genannten Tatbestände – bei unveränderten gesetzlichen Höchststrafen – wieder als Vergehen einzustufen, um den Staatsanwaltschaften und Gerichten die Möglichkeit für Opportunitätsentscheidungen zu eröffnen. Die Regelung minder schwerer Fälle sei keine gleichwertige Alternative, weil Einstellungen gegen Auflagen oder Strafbefehle auch dann ausgeschlossen seien.

Die Unabhängige Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs Kerstin Claus forderte anlässlich der Vorstellung der jüngsten Zahlen zu Gewalttaten gegen Kinder und Jugendliche Ende Mai ebenfalls eine Reparatur des § 184b StGB. Die meisten tatverdächtigen Minderjährigen handelten nicht vorsätzlich oder sexuell motiviert, sondern aus einer digitalen Naivität heraus, so Claus. Vermeintlich „coole“ Bilder oder Clips würden mit Musik, Geräuschen, Texten oder Animationen versehen und tausendfach weitergeleitet. Vielfach werde gar nicht verstanden, dass es sich um Darstellungen von sexueller Gewalt handelt. „Die aktuelle Ausgestaltung der Vorschrift als Verbrechen erschwert den Umgang mit dem Phänomen“, betonte sie. Die strafrechtliche Verfolgung in diesen Fällen binde bei der Polizei und den Staatsanwaltschaften „enorme Ressourcen, die dann für die Verfolgung von klassisch kriminellen Täterkreisen fehlen“. Der Paragraf müsse deswegen zeitnah angepasst werden, forderte Claus. „Ziel muss sein, dass eindeutig ausbeuterische Taten zu Lasten von Kindern oder Jugendlichen weiterhin mit hohen Strafen geahndet werden, aber Fälle mit geringem Unrechtsgehalt frühzeitig eingestellt werden können.“

Gesetzespläne gegen digitale Gewalt nachbessern

Auch die vom Bundesjustizministerium kürzlich vorgelegten Eckpunkte für ein „Gesetz gegen digitale Gewalt“ hat die Justizministerkonferenz bewertet. Die Länder begrüßen das Ziel der Neuregelung, sind von der geplanten Umsetzung aber noch nicht durchgehend überzeugt. Mit den neuen Vorschriften sollen sich Betroffene von Hass, Hetze und Bedrohungen künftig effektiver zivilrechtlich wehren können. Erweiterte Auskunftsrechte und beschleunigte gerichtliche Auskunftsverfahren sollen helfen, die Urheber rechtswidriger Inhalte schneller und häufiger zu identifizieren. Das Verfahren könnte den Eckpunkten zufolge in etwa so aussehen: Bei mutmaßlichen Rechtsverletzungen wenden sich die Betroffenen mithilfe eines Anwalts an die Landgerichte. Das Gericht soll Facebook und Co. in die Pflicht nehmen dürfen, zunächst nur gegenüber dem Gericht offenzulegen, welcher Account mit welcher E-Mail- und IP-Adresse hinter einer Äußerung steht. Im zweiten Schritt kann das Landgericht dann an den Internetzugangsanbieter – etwa Vodafone, Telekom oder 1&1 – herantreten und den Provider verpflichten, zunächst nur gegenüber dem Gericht mitzuteilen, wem die IP-Adresse zum fraglichen Zeitpunkt zugeordnet war, bevor diese Information dort gelöscht wird. Ob bei den Telekommunikationsunternehmen zu diesem Zeitpunkt allerdings noch etwas zu sichern ist, hängt davon ab, ob und wie lange die fraglichen IP-Adressen gespeichert werden. Eine gesetzliche Speicherpflicht lehnt das Bundesjustizministerium weiterhin ab, so dass die Auskunft an der jeweiligen Speicherpraxis der Unternehmen hängt, die in der Regel allenfalls für einige Tage Verbindungsdaten aufbewahren. Dass eine gerichtliche Anordnung gegenüber dem Internetprovider bereits wenige Tage nach einer möglichen Rechtsverletzung ergehen könnte, ist aber nicht realistisch. Das mehrstufig aufgebaute Auskunftsverfahren wäre selbst bei reibungsloser Kooperation der beteiligten Diensteanbieter, die längst nicht immer zu erwarten ist, wohl nicht schnell genug. Ohne gesetzliche Speicherfristen für IP-Adressen wird das Verfahren vielfach ins Leere laufen.

Zu den Zweifeln an der Praktikabilität des Auskunftsverfahrens kommen Bedenken von Datenschützern und Netzaktivisten gegen den geplanten Anwendungsbereich eines Gewaltschutzgesetzes, der sich keineswegs auf Fälle von Gewalt beschränkt. Der Kreis der Delikte, bei denen die Diensteanbieter künftig Bestands- und Nutzungsdaten herausgeben sollen, ist deutlich weiter gefasst. Nicht nur der Straftatenkatalog des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes, auch die Verletzung zum Beispiel des Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb etwa durch wahrheitswidrige Restaurantbewertungen soll als Anlass für Auskünfte ausreichen. Als letztes Mittel gegen „notorische Rechtsverletzer“ sehen die Pläne zudem gerichtlich angeordnete Account-Sperren vor. Zumindest zeitweise sollen Accounts gesperrt werden dürfen, wenn Nutzer andere schwerwiegend in Persönlichkeitsrechten verletzt haben und eine Wiederholungsgefahr besteht.

Niedersachsens Justizministerin Kathrin Wahlmann (SPD) überzeugen insbesondere die geplanten Regelungen für Account-Sperren noch nicht. „Es ist dringend erforderlich, einen Nutzer-Account in besonders schwerwiegenden Fällen auch unmittelbar nach einer ersten Rechtsverletzung sperren zu können“, sagt Wahlmann im Gespräch mit der DRiZ. „Zudem gilt es in einem gesetzlichen Tatbestand normenklar zu definieren, was unter digitaler Gewalt zu verstehen ist.“  Ferner spricht die SPD-Politikerin sich dafür aus, die auf Account-Sperren gerichteten Verfahren „noch niederschwelliger und bürgerfreundlicher“ auszugestalten. Die gerichtliche Geltendmachung der Rechte nach dem neuen Gesetz solle in erster Instanz ausschließlich bei den Amtsgerichten verortet werden, schlägt Wahlmann vor. Sie regt zudem an, dass auch qualifizierte Opferschutzeinrichtungen die Rechte der Betroffenen vor Gericht geltend machen können (gesetzliche Prozessstandschaft). „Für eine effektive Rechtsdurchsetzung bedarf es – auch und gerade bei Account-Sperren – eines zügigen, einfachen Rechtsschutzes. Schnelligkeit ist geboten, um eine weitere, nicht kontrollierbare Verbreitung rechtswidriger Inhalte zu unterbinden“, betont die nieder­sächsische Justizministerin.

Der Chaos Computer Club (CCC) lehnt die Pläne Buschmanns hingegen grundlegend ab. Er kritisiert das Vorhaben der Ampel scharf als „Vorratsdatenspeicherung durch die Hintertür“. Der CCC wendet sich entschieden gegen neue Pflichten zum Speichern von Daten und Identifizieren von Nutzerinnen und Nutzern. Die Netzaktivisten fordern die Bundesregierung auf, stattdessen die Ermittlungsbehörden für den Gesetzesvollzug zu stärken und treffen sich in diesem Punkt mit der Kritik aus der Justiz. Ein Gesetz gegen digitale Gewalt dürfte  Symbolpolitik bleiben, solange die Ampel sich der Einsicht verweigert, dass eine effektivere Rechtsdurchsetzung nur mit mehr spezialisiertem Personal zu erreichen ist. Mit dem Gesetz käme eine Vielzahl neuartiger, aufwendiger Verfahren auf die Gerichte zu, was ohne zusätzliche Zivilrichter sicher nicht zu stemmen ist. Und auch bei der Strafverfolgung von Hasskriminalität im Netz gibt es noch Luft nach oben. Geboten wäre deshalb eine Personaloffensive durch einen zweiten Bund-Länder-Rechtsstaatspakt, den die Ampel zwar versprochen hat, aber bislang nicht umsetzen will. Schaufenster-Gesetze, die nicht personell unterlegt sind, werden kaum helfen, das richtige Ziel einer effektiveren Rechtsdurchsetzung im digitalen Raum zu erreichen.

Strafgerichtliche Hauptverhandlung straffen

Auf Initiative das rheinland-pfälzischen Justizministers Herbert Mertin (FDP) hat die JuMiKo zudem beraten, an welchen Stellen sich die gesetzlichen Vorgaben für den Strafprozess sinnvoll straffen lassen. Gerade umfangreiche Strafverfahren mit einer Vielzahl von Beteiligten und häufig komplexen Verfahrensgegenständen stellten die Strafjustiz vor erhebliche Herausforderungen. Zwar seien in den vergangenen Jahren zahlreiche Änderungen in der Strafprozessordnung vorgenommen worden, ohne dass sie aber die gewünschten oder jedenfalls hinreichenden Auswirkungen gehabt hätten.

Es bestehe nach wie vor erheblicher Handlungsbedarf, wie die wachsende Zahl der Beschuldigten belege, die jedes Jahr wegen vermeidbarer Verfahrensverzögerungen aus der Untersuchungshaft entlassen würden. So stellt zum Beispiel die hohe Arbeitsbelastung oder sogar Überlastung psychiatrischer Sachverständiger die Gerichte zum Teil vor kaum zu lösende Aufgaben bei der Prozessplanung. Rheinland-Pfalz regt vor diesem Hintergrund eine gesetzliche Klarstellung an, in welchem Umfang psychiatrische Sachverständige persönlich an der Hauptverhandlung teilzunehmen haben. Auch eine Flexibilisierung der Unterbrechungsvorschriften sei sinnvoll. Die Justizpraxis habe sich unter anderem dafür ausgesprochen, die anlässlich der Corona-Pandemie eingeführte Hemmungsregelung des § 10 EGStPO in eine dauerhafte, allgemeine Regelung für vergleichbare Fälle zu überführen. Der rheinland-pfälzische Justizminister betont, die Rechte der Beschuldigten und der Opfer von Straftaten sollten keinesfalls vernachlässigt oder hintangestellt werden. Eine zeitnahe, konzentrierte und ressourcenschonende Verhandlung liege auch in deren Interesse. Keinem Beschuldigten und keinem Opfer einer Straftat sei gedient, wenn sich eine Hauptverhandlung über Monate oder gar Jahre hinziehe und im Einzelfall sogar wiederholt werden müsse. Es bleibt abzuwarten, ob der Bundesjustizminister sich den Argumenten seines Parteifreundes aus Rheinland-Pfalz öffnet und die Anregungen in seinem Gesetzentwurf für „schnellere, moderne und effizientere Strafprozesse“ aufgreift, den er noch für dieses Jahr angekündigt hat.

 

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Sven Rebehn ist Chefredakteur der Deutschen Richterzeitung.
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