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Pro und Contra

Zurückweisungen an der Grenze zulässig?

Sind Zurückweisungen von Asylsuchenden an der deutschen Grenze rechtens? Ex-Bundesverfassungsrichter Peter M. Huber sagt ja, Asylrechtsexperte Constantin Hruschka nein.
Prof. Dr. Peter M. Huber, Bundes-verfassungsrichter a. D., Thüringer Innenminister a. D., lehrt an der Ludwig-Maximilians-Universität München Öffentliches Recht und Staatsphilosophie.

Nach Art. 25 ff. VO/EU 2016/399 (Schengener Grenzkodex) sind Grenzkontrollen unter bestimmten Voraussetzungen zulässig und damit auch eine Einreiseverweigerung an der Grenze (Art. 14). Gemäß Art. 3 Abs. 1 VO/EU 604/2013 (Dublin III) prüft ein Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz auch dann, wenn er an der Grenze gestellt wird. Dies gilt auch für die vorgelagerte Prüfung, welcher Mitgliedstaat nach Kapitel III zuständig ist, gewährt allerdings kein temporäres Aufenthaltsrecht. Art. 3 Abs. 3 bestimmt vielmehr ausdrücklich, dass der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat den Asylbewerber in einen sicheren Drittstaat zurück- oder ausweisen kann, im Falle Deutschlands also in alle Nachbarstaaten. Ein Recht, sich den Zielstaat auszusuchen, verleiht die Dublin-III-Verordnung nicht. Art. 18 betrifft dagegen nur die Verpflichtungen des mate­riell zuständigen Mitgliedstaats.

Dies deckt sich mit Art. 3 Abs. 1 RiL 2013/32 (Asylverfahrensrichtlinie). Er gilt für alle Anträge auf internationalen Schutz, die im Hoheitsgebiet einschließlich an der Grenze etc. gestellt werden, betrifft allerdings nur das materielle Verfahren auf internationalen Schutz. Für dieses gewährt Art. 9 temporären Schutz, der jedoch nicht eingreift, wenn der Antragsteller aus einem sicheren Drittstaat kommt. Nach Art. 38 Abs. 1 können die Mitgliedstaaten nämlich das Konzept des sicheren Drittstaats anwenden, wenn sie sich davon überzeugt haben, dass eine Person, die um internationalen Schutz nachsucht, in dem betreffenden Drittstaat nach im Einzelnen aufgelisteten Grundsätzen behandelt wird. Verleiht die RiL 2013/32 schon für das reguläre Verfahren kein temporäres Aufenthaltsrecht, so gilt dies für das vorgelagerte Dublin-Verfahren erst recht.

Gleichwohl können Betroffene gegen die Zurückweisung Rechtsschutz suchen – allerdings vom sicheren Drittstaat aus. Das Refoulement-Verbot (Art. 3 EMRK) greift hier nicht, denn den Betroffenen droht in Österreich, Polen etc. keine Verfolgung. Auch zu „refugees in orbit“ werden sie nicht, befinden sie sich doch auf dem Territorium eines sicheren Drittstaates. Von dort können sie – wie der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit Urteil vom 22. September 2023 entschieden hat – nur unter den Voraussetzungen von Art. 14 RiL 2008/115 (Rückführungsrichtlinie) zurückgeführt werden. Im Übrigen gilt die Dublin-III-Verordnung.

Selbst wenn man das anders sähe, bleibt der Rückgriff auf Art. 72 AEUV. Dieser erlaubt es den Mitgliedstaaten, zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und zum Schutz der inneren Sicherheit von den oben genannten Regelungen abzuweichen. Seine Voraussetzungen können bei einer konkreten Gefahr ebenso vorliegen wie bei einer Gesamtschau von mit der Migration zusammenhängenden Problemen: einem Anstieg von Straftaten gegen Leib und Leben, sich häufenden Anschlägen, einer anhaltenden Überlastung der Unterbringungs- und Versorgungsmöglichkeiten etc.

Würde die Dublin-III-Verordnung funktionieren, dürfte es in Deutschland praktisch keine Asylbewerber geben. Seit mehr als 20 Jahren sind es jedoch bis zu 70 Prozent der Schutzsuchenden in der EU. Offenkundig leidet die Dublin-III-Verordnung an einem strukturellen Vollzugsdefizit. Sie ist daher nichtig (BVerfGE 133, 168 Rn. 116 ff.). Dann aber greift nach Art. 16a Abs. 5 GG die deutsche Regelung über sichere Drittstaaten (Art. 16a Absatz 2 GG, § 18 AsylG).      

Prof. Dr. Constantin Hruschka ist Inhaber der Professur für Sozialrecht, Evangelische Hochschule Freiburg.

Rechtmäßige Zurückweisungen an einer Binnengrenze setzen rechtmäßige Grenzkontrollen voraus. Solche Kontrollen sind als Ausnahme von der Grundregel des Art. 22 Schengener Grenzkodex (SGK), der das Überschreiten der Binnengrenzen ohne Kontrollen vorsieht, für besondere Gefahrensituationen vorgesehen. Es fehlt an einer faktischen Grundlage sowohl für die neu eingeführten Kontrollen an den Grenzen zu den Beneluxstaaten und Dänemark, die mit einer erhöhten Sicherheitsgefahr aufgrund steigender Ankunftszahlen begründet wurden, als auch für die Verlängerung der bestehenden Grenzkontrollen an den Grenzen zu Österreich, Polen, der Schweiz und der Tschechischen Republik, da die Zahl der ankommenden Personen in Deutschland (und im Schengen-Raum) zurückgeht. Binnengrenzkontrollen konnten dementsprechend nicht rechtmäßig angeordnet beziehungsweise verlängert werden. Auch eine „neue Bedrohungslage“, die eine Neuanordnung für einen initialen Zeitraum von sechs Monaten erlauben würde, liegt „zumindest seit sie [die Grenzkontrollen] mit Beendigung der Pandemielage seitdem im Wesentlichen fortlaufend mit migrations- und sicherheitspolitischen Aspekten/Sekundärmigration begründet wurden“, nicht vor (VG München, M 23 K 22.3422, Urt. v. 31.1.2024). Zurückweisungen von Personen, für die ein Dublin-Verfahren durchgeführt werden müsste, weil sie bereits ein Asylgesuch eingereicht haben oder an der Binnengrenze äußern, sind rechtswidrig, da ein Dublin-Verfahren mit entsprechenden Fristen und Rechtsschutzmöglichkeit vor einer Überstellung in den zuständigen Staat durchgeführt werden muss (vgl. Art. 3 iVm Art. 20 Dublin-Verordnung).

Auch ein (angeblicher) Systemausfall (vgl. EuGH, C-646/16, Jafari) oder eine (zurzeit nicht bestehende) Notlage nach
Art. 72 AEUV würden nicht zu einer frei wählbaren Abbedingung der unionsrechtlichen Regelungen führen. Vielmehr müssten die unionsrechtlichen Möglichkeiten (beispielsweise Maßnahmen nach Art. 78 Abs. 3 AEUV oder Art. 26 SGK) ausgeschöpft werden, bevor Grenzkontrollen oder Zurückweisungen gerechtfertigt werden können. Auch der Rückgriff auf nationales Recht kann eine Rechtmäßigkeit von Zurückweisungen nicht begründen, da durch das als Vereinbarung nach Art. 16a Abs. 5 GG anzusehende Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) die Nachbarstaaten Deutschlands eben nicht mehr als sichere Drittstaaten im Sinne des GG anzusehen sind, sondern als Partnerstaaten im Schengen-Raum. In diesem gelten mit dem SGK, der Dublin-Verordnung und der Rückführungsrichtlinie vorrangige unionsrechtliche Regeln für Zurückweisungen. In der aktuellen Situation erlaubt keines dieser Instrumente Zurückweisungen an den deutschen Binnengrenzen. Europäisch gedacht ist das auch folgerichtig, da eine Zurückweisung an einer Binnengrenze weder dazu beiträgt, die Situation eines illegalen Aufenthalts im Schengen-Raum besser zu bewältigen oder einfacher zu beenden (vgl. EuGH, C-444/17, Arib), noch die Zuständigkeitsbestimmung für Asylverfahren und deren Durchführung zu vereinfachen oder zu beschleunigen.

Schon aus diesen Gründen sollte nach einem Weg gesucht werden, Grenzkontrollen wieder zu beenden. Angesichts der aktuellen Debattenlage scheint es jedoch keine Möglichkeit zu geben, die Grenzkontrollen ohne Gesichtsverlust wieder einzustellen, die gerufenen Geister sind innenpolitisch nicht mehr loszuwerden. Daher können wohl einzig die sich bereits andeutende Kooperationsverweigerung der Nachbarstaaten und/oder eine Verurteilung in einem Vertragsverletzungsverfahren dazu führen, dass die rechtswidrigen Kontrollen und Zurückweisungen wieder aufgegeben werden.

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