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Pro und Contra

„Containern“ entkriminalisieren

Wer weggeworfene, noch genießbare Lebensmittel aus Mülltonnen fischt, soll straffrei bleiben. Die Bundesregierung und mit ihr einige Länder wollen dafür die Richtlinien für das Strafverfahren ändern. Überflüssig, findet die Union.
Dr. Claudia Schilling (SPD) ist Senatorin für Justiz der Hansestadt Bremen.

Ich glaube, auf eine Feststellung können wir uns alle einigen: Das heutige Ausmaß der Lebensmittelverschwendung ist weder ethisch noch ökologisch vertretbar. Die Frage ist: Soll es dennoch verfolgt werden, noch genießbare Lebensmittel aus Abfallcontainern zu nehmen?

Kann es tatsächlich Diebstahl sein, wenn jemand sich an mit dem Wurf in die Mülltonne offensichtlich aufgegebenem „Eigentum“ eines Supermarktes bedient? Ist es zwanghaft Hausfriedensbruch, wenn jemand über eine niedrige Mauer oder einen Jägerzaun steigt, um dort noch brauchbare Lebensmittel einzusammeln? Juristisch sind diese Fragen tatsächlich nicht trivial – der gesunde Menschenverstand hilft indes weiter und lässt letztlich nur eine Frage übrig: Kann es angesichts der Lebensmittelverschwendung in den Industrieländern wirklich richtig sein, dass Menschen, die sich hierzulande aus welchen Gründen auch immer an weggeworfenen Lebensmitteln bedienen, mit Strafverfolgung rechnen müssen? Und ich finde, die Antwort auf diese Frage fällt eindeutig aus: Angesichts der geradezu obszönen Lebensmittelverschwendung kann und sollte sehr wohl auch grundlegend diskutiert werden, ob  „Containern“ – also die Mitnahme von weggeworfenen Lebensmitteln – weiterhin generell strafbar sein soll.

Aber wie gesagt: Die Rechtsfolgen einer solchen Überlegung sind eben nicht trivial. Gerade daher hat der Hamburger Vorschlag, den sich nun auch die Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft, Cem Özdemir (Grüne), und der Justiz, Marco Buschmann (FDP) zu eigen gemacht haben, seinen Reiz: Mit dem Umweg über die Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren (RiStBV) erreicht er das Ziel, das An-Sich-Nehmen von weggeworfenen Lebensmitteln zu entkriminalisieren auf pragmatische Weise, indem zumindest von einer Strafverfolgung abgesehen wird, solange das Containern nicht mit Sachbeschädigung, Vandalismus oder ähnlichem einhergeht. Gleichzeitig wird diese relativ einfache, sogenannte kleine Lösung auch der Tatsache gerecht, dass es bundesweit eben nur sehr wenige entsprechende Fälle gibt, die überhaupt verfolgt werden. Tatsächlich – das räume ich gern ein – hat die mittlerweile seit Jahren laufende Diskussion über das Containern daher in erster Linie auch einen symbolischen Charakter. Denn sie beschäftigt sich mit einem Problem, das nur eine sehr geringe Anzahl Menschen überhaupt betrifft. Dennoch bleibt es dabei: Ich bin der Überzeugung, dass es nicht sein kann und nicht sein darf, dass Menschen, die nichts anderes tun als weggeworfene Lebensmittel an sich zu nehmen, mit Strafverfolgung rechnen müssen. 

Einen echten Erfolg hat die nun schon seit Jahren laufende Debatte um das Containern mithin längst erreicht: nämlich, dass der verschwenderische Umgang unserer Wohlstandsgesellschaft mit Lebensmitteln immer wieder in die Öffentlichkeit gerückt wurde. Und genau da muss dieses Thema bleiben – denn noch weitaus wichtiger als eine neue Regelung für das Containern zu finden, ist es, das Thema generell in den Fokus zu nehmen – und zwar bevor noch verwertbare Lebensmittel überhaupt in den Containern landen. Denkbar ist beispielsweise, größere Lebensmittelbetriebe und Supermärkte zu verpflichten, noch genießbare Lebensmittel an gemeinnützige Organisationen weiter zu verteilen. Auch, dass nach wie vor vielfach Gemüse entsorgt wird, das nicht den Schönheitskriterien entspricht, bevor es überhaupt in den Handel kommt, darf nicht sein: Wenn vielleicht etwas eigentümlicher gewachsene Kartoffeln oder Karotten sofort zu Ausschuss werden, dann stimmt schlicht etwas nicht mit den Werbebotschaften und den Vermarktungskriterien der Lebensmittelindustrie – und letztlich auch mit unser aller Kaufverhalten.

Marion Gentges (CDU) ist Ministerin der Justiz und für Migration in Baden-Württemberg.

Die Verantwortlichen für Öffentlichkeitsarbeit im Bundesjustiz- und Bundeslandwirtschaftsministerium dürften zufrieden gewesen sein. Ihnen ist zu Beginn des Jahres ein Erfolg gelungen, als Medien ein Schreiben ihrer Minister an die Länder zum Anlass nahmen, das sogenannte „Containern“ breit aufzugreifen: „Buschmann und Özdemir für Straffreiheit“. Die Schlagzeilen waren groß. Genauso groß war kurz darauf aber auch die Irritation in der Öffentlichkeit, als klar wurde, dass Gegenstand des Vorstoßes lediglich eine kleine ergänzende Nummer 235a in den Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren (RiStBV) sein sollte.

Bei Lektüre dieser Nr. 235a wird jeder Staatsanwalt vergeblich das Plus im Vergleich zur aktuellen Rechtslage suchen. In der Regelung soll festgeschrieben werden, dass beim Containern „regelmäßig“ die Einstellung wegen Geringfügigkeit nach § 153 StPO in Betracht komme. Selbstredend besteht diese Einstellungsmöglichkeit aber bereits nach der aktuellen Gesetzeslage, und es ist davon auszugehen, dass in der Strafverfolgungspraxis hiervon auch jetzt schon „regelmäßig“ Gebrauch gemacht wird. Davon abgesehen wird die geplante Nr. 235a RiStBV nicht einmal einen relevanten Anwendungsbereich haben, denn die regelmäßige Einstellung soll nach Absatz 2 dann nicht in Betracht kommen, wenn beim Containern ein physisches Hindernis wie beispielsweise ein Zaun überwunden wird oder der Tatbestand der Sachbeschädigung etwa durch Knacken eines Vorhängeschlosses erfüllt ist. In den allermeisten Fällen wird dies der Fall sein.

Der Vorschlag liegt jetzt bei den Ländern, die im RiStBV-Ausschuss über die Einführung der vorgeschlagenen Nr. 235a werden entscheiden müssen. Angesichts dessen, dass die Neuregelung keinen praktisch relevanten Mehrwert hätte und schon gar nicht die seit Wochen anhaltende medienwirksame Diskussion rechtfertigt, kommen eigentlich nur zwei Reaktionsmöglichkeiten in Betracht: Entweder wird die Luftnummer achselzuckend unterstützt, in der Hoffnung, die Diskussion endlich irgendwie hinter sich lassen zu können, oder – und das wäre konsequent – von dem Vorhaben würde Abstand genommen werden, weil eine Regelung ohne sinnvollen rechtlichen oder praktischen Anwendungsbereich keinerlei Berechtigung hat. 

Vielleicht gelänge es dann auch wieder, zu der Kernfrage zurückzukehren, wie sich die Vernichtung von mehreren Tonnen Lebensmittel jedes Jahr tatsächlich vermeiden lässt. Bei allem gebotenen Respekt vor den RiStBV kann die Antwort hierauf sicherlich nicht in einer neuen Nummer 235a in eben diesen Richtlinien liegen. Hierfür bedarf es größerer Lösungen. Zu dieser Überzeugung sind die Länder schon einmal gelangt, als sie auf der Justizministerkonferenz im Juni 2019 den damaligen Vorschlag Hamburgs, das Containern zu entkriminalisieren, ablehnten. Stattdessen baten sie in einem geänderten Beschluss die Bundesregierung darum, alternative Abgabeformen von Lebensmitteln zu entwickeln, die es insbesondere Lebensmittelanbietern ermöglichen, Lebensmittel freiwillig und ohne Nachteile an Dritte, etwa die Tafeln, abzugeben. Auch die Ampel-Parteien kündigen in ihrem Koalitionsvertrag an, die Lebensmittelverschwendung verbindlich branchenspezifisch zu reduzieren. Dabei können sie jedoch unmöglich die Regelung vor Augen gehabt haben, für die sich der Bundesjustizminister und der Bundeslandwirtschaftsminister nun einsetzen. Menschen zu ermöglichen, in Containern nach Lebensmitteln zu wühlen, kann nicht unsere Antwort auf die drängenden Fragen der Lebensmittelverschwendung sein.

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