Aufgrund der wissenschaftlich-technischen Entwicklung, etwa bei der forensischen DNA-Analyse, können heute in Fällen, bei denen Ermittlungsverfahren wegen mangelnden Tatnachweises eingestellt worden waren, auch lange nach der Tatzeit noch Täter überführt und verurteilt werden. Die Ermittlungen können, solange die Tat nicht verjährt ist, jederzeit wieder aufgegriffen werden. Das ist gut so.
Etwas anderes gilt aus gutem Grund für abgeschlossene Strafverfahren. Denn Art. 103 Abs. 3 GG verbietet nicht nur Doppelbestrafung („ne bis in idem“), sondern über den Wortlaut hinaus auch mehrfache Strafverfahren in derselben Sache. Das stellt Art. 50 der EU-Grundrechtecharta für Freisprüche ausdrücklich klar. Art. 4 Abs. 2 des 7. Zusatzprotokolls zur – als einfaches Bundesrecht geltenden – Europäischen Menschenrechtskonvention schließt zwar eine Wiederaufnahme bei neuen oder neu bekannt gewordenen Tatsachen nicht aus, vermag aber die etwa bei Maunz-Dürig (2017) so skizzierte deutsche Verfassungslage nicht zu verschieben: Danach hat Art. 103 Abs. 3 GG zwei Bedeutungsschichten. Als Grundrecht sichert er das subjektive Recht des Einzelnen, wegen einer Tat nicht mehrmals strafrechtlich belangt zu werden. Und als objektive Verfahrensnorm bestimmt er die Struktur des Strafverfahrens und der Strafrechtspflege mit. Eine Tat, die rechtskräftig abgeurteilt ist, darf nicht ein zweites Mal Gegenstand einer Verurteilung oder auch nur einer Verfolgung sein. Verfahrensrechtlich stellt Art. 103 Abs. 3 GG ein Prozesshindernis dar. Zugleich birgt er eine institutionelle Garantie der Rechtskraftsperrwirkung in sich, die auch durch die Prozessgesetzgebung nicht ausgehöhlt werden darf.
In diesen Schutzbereich des vorbehaltslos gewährleisteten Art. 103 Abs. 3 GG greift schon § 362 StPO mit seiner traditionellen, sehr beschränkten Zulassung einer Wiederaufnahme zuungunsten eines rechtskräftig verurteilten Angeklagten ein. Gleichwohl hat nun die Große Koalition aus Union und SPD vereinbart, die Wiederaufnahmemöglichkeiten zuungunsten freigesprochener Angeklagter in Bezug auf die nicht verjährbaren Straftaten zu erweitern, obwohl dies alles bereits 2009 im Bundestag ausführlich geprüft worden war. Technikgläubigkeit verschiebt nicht Grundrechte. Wie eine DNA-Spur an ihren Auffindeort gelangt, lässt sich kaum abschließend bestimmen. Ich mahne deshalb zu größter Vorsicht und zitiere aus der damaligen Anhörung: „Ein weiterer Grund, nichts zu ändern, ist die mangelnde eindeutig rechtssichere Abgrenzbarkeit eines DNA-Wiederaufnahmegrundes, auch im Vergleich zu anderen denkbaren Gründen (z.B. aufgefundene Urkunde, neuer Zeuge: Auch diese waren ja – wie eine DNA-Spur – vorhanden, sind aber eben nicht entdeckt worden). Einziger Unterschied: Die DNA-Spur hätte damals nicht entdeckt werden können. Solche wissenschaftlich-technischen Weiterentwicklungen gab es aber stets (z.B. Blutgruppenbestimmung, Daktyloskopie, Textiluntersuchung, Stimmenanalyse, Lackspurenbestimmung), wird es weiterhin geben, und sie haben nie zu einer Änderung des Wiederaufnahmerechts geführt. Lediglich 1937 NS-Ideologie-bedingt in einer von Freisler wesentlich gestalteten StPO-Reform, begründet mit dem ‚Verlangen der Volksgemeinschaft nach Verwirklichung der materiellen Gerechtigkeit‘.“
Finger weg von solchem oder ähnlichem Populismus. Auch wenn für die Betroffenen besonders schwer erträglich ist, dass im Ausnahme- und Einzelfall Freigesprochene, aber möglicherweise doch Schuldige von der Verfassungslage profitieren können.