Es ist alles andere als selbstverständlich, dass es seit zwanzig Jahren in Europa ein ständig tagendes und mit Berufsrichtern besetztes Gericht gibt, das Grundrechtsbeschwerden von über 800 Millionen Menschen aus 47 Staaten entgegennimmt, das Bürgern Recht geben und Staaten zu Rechtsreformen sowie zur Zahlung von Entschädigungen verurteilen kann. Es sind die Mühseligen und Beladenen, die an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg kommen, jene, die unter unmenschlichen Bedingungen in Gefängnissen eingesperrt sind, ebenso wie jene, denen die Kinder genommen wurden, jene, die der Ansicht sind, sie hätten zu Unrecht ihre Meinung nicht kundtun dürfen und jene, die ohne gerichtliche Überprüfung in Länder abgeschoben werden sollen, in denen sie fürchten, Gefahren für Leib und Leben ausgesetzt zu sein. Hinter den Aktenzeichen verbirgt sich viel Leid; etwa 70.000 Beschwerden pro Jahr werden registriert. Die meisten Beschwerdeführer sind unbekannt, aber es sind auch Prominente darunter – man denke nur an Caroline von Hannover, Julia Timoschenko, Aleksej Nawalny oder auch den ehemaligen König von Griechenland. Fälle zum Georgienkrieg, zum Irakkrieg, zu Beslan und zu Pussy Riot sind Teil der europäischen Zeitgeschichte geworden.
Den Mechanismus zum Schutz der Menschenrechte hatte man in seiner ursprünglichen Form in den späten 40er Jahren konzipiert und im Laufe der Jahre durch viele Zusatzprotokolle verfeinert. Es war ein Erfolgsmodell. Die Rechtsprechung, die die Europäische Menschenrechtskonvention als „lebendiges Instrument“ verstand, drang in immer mehr Teile des gesellschaftlichen Lebens rechtsgestaltend ein. Mit Inkrafttreten des 11. Zusatzprotokolls am 1.11.1998 nahm der Gerichtshof in seiner gegenwärtigen Gestalt seine Arbeit auf.
In den folgenden Jahren wurde der Gerichtshof aber zunehmend zum Opfer seines eigenen Erfolgs. Im Jahr 2011 schwoll der Rückstau unerledigter Fälle auf 160.000 an. Zudem wurden die Urteile in den Mitgliedstaaten nicht mehr fraglos hingenommen, sei es, weil sie als „ultra vires“ kritisiert wurden, sei es, weil das Geld zur Umsetzung kostspieliger Reformmaßnahmen – etwa mit Blick auf konventionskonforme Haftbedingungen – fehlte, sei es, weil man dem sich herausbildenden europäischen „ordre public“ die nationale Identität entgegensetzte. Mehr und mehr gibt es politischen Gegenwind, Russland zahlt seine Beiträge nicht mehr, in der Schweiz findet ein Referendum „Landesrecht vor Völkerrecht“ statt. Der Gerichtshof bemüht sich, den Rückstau an Fällen abzutragen, betont die Subsidiarität seines Eingreifens, setzt auf Dialog mit den nationalen Gerichten und konzentriert sich auf ein arbeitsteiliges Zusammenwirken mit dem EuGH in Luxemburg.
Auch wenn in zunehmend auf nationale Interessen fokussierten Gesellschaften die Akzeptanz für europaweit geltende Menschenrechtsstandards abnehmen mag, so bleibt das Straßburger System zum Schutz der Menschenrechte doch ein Markenzeichen Europas.
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