Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit: Neue VID-EmpfehlungenIm Krisen- oder gar Insolvenzumfeld kommt dem Begriff der Zahlungsunfähigkeit eine entscheidende Rolle zu. Da es aber an einer eindeutigen gesetzgeberischen Festlegung fehlt, bestehen hier recht weite Interpretationsspielräume. Wünschenswert ist eine klare Definition und Ermittlung der rechnerischen Zahlungsunfähigkeit insbesondere aus Sicht der Geschäftsleitenden eines Unternehmens, die bei Verletzung der Insolvenzantragspflicht extrem hohen Haftungsrisiken ausgesetzt sind.
Praxis-Info!
Hintergrund Betriebswirtschaftliche und spezifische insolvenzrechtliche Anforderungen bedingen es, die Geschäftsführer zu befähigen, entsprechend ihrer gesetzlichen Pflicht laufend die Zahlungsfähigkeit des Unternehmens im Auge zu behalten. Sie sollen in der Lage sein, im Fall einer Krise frühzeitig Gegenmaßnahmen durchzuführen oder – sollte dies je nach Lage des Einzelfalls nicht möglich sein – ein Insolvenz- oder Eigenverwaltungsverfahren einzuleiten. Das Problem liegt jedoch darin, dass der Eröffnungsgrund der Zahlungsunfähigkeit nicht ausreichend und transparent konturiert ist und sich viele Geschäftsführer sowie ihnen zuarbeitende kaufmännische Mitarbeitende mit der Prüfung der Zahlungs(un)fähigkeit schwertun. Der Ausschuss Betriebswirtschaft des Verbands der Insolvenzverwalter und Sachwalter Deutschlands (VID) hat vor diesem Hintergrund Empfehlungen zur Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit formuliert, die die Diskussion über diesen zentralen Begriff mit der Wissenschaft und Praxis anstoßen und zu einer exakteren Bestimmung dieses Insolvenzeröffnungsgrunds beitragen sollen. Der Gesetzgeber habe die rechnerische Entwicklung der Zahlungsunfähigkeit nicht definiert, er nimmt die Zahlungsunfähigkeit des Schuldners an, „wenn er nicht in der Lage ist, die fälligen Zahlungspflichten zu erfüllen“. Damit sei bewusst auch auf die Beschreibung der erforderlichen Merkmale Dauer und Wesentlichkeit verzichtet worden. Daher könne und müsse der Begriff durch Rechtsprechung, Praxis und Wissenschaft ausgefüllt werden, zumal bei der derzeitigen Rechtsanwendung die Zahlungsunfähigkeit nicht schlüssig und klar ermittelt werde. Denn aufgrund der Kombination von Bestands- und Flussgrößen werde – so die VID-Experten im Ausschuss Betriebswirtschaft – die wirtschaftliche Lage des Schuldners zu den Betrachtungszeitpunkten nicht nachvollziehbar abgebildet. Die Verwendung von relativen Größen lade dazu ein, Verbindlichkeiten nicht zu bezahlen, um dadurch einen größeren Quotienten beim Vergleich der verfügbaren Mittel zu den fälligen Verbindlichkeiten zu erhalten. Die Betrachtungszeitpunkte beziehen sich (korrelieren) nicht auf den Rhythmus der Buchhaltung, aus der die Ausgangsgrößen hergeleitet werden.
Lösung Die Zahlungsunfähigkeit ist der zentrale Anknüpfungspunkt für die Einleitung eines Insolvenzverfahrens. Das gilt sowohl für diesen Eröffnungsgrund selbst als auch für die anderen beiden Eröffnungsgründe: die Prüfung der Fortführungsprognose bei Ermittlung der drohenden Zahlungsunfähigkeit und die Überschuldung. Das 15-seitige Diskussionspapier „Empfehlungen zur Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit“ vom 4.7.2022 wird als ein Beitrag zur Fortentwicklung der Insolvenz- und Sanierungskultur verstanden. Nach einführenden Abschnitten wird die historische Entwicklung der Definition einer Zahlungsunfähigkeit nachgezeichnet, so die Entwicklung von der Konkursordnung bis zur Insolvenzordnung und der Fortgang der Rechtsprechung. Abschn. III zeigt Schwächen des derzeitigen Systems der Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit auf. Dazu wird die systemwidrige Verknüpfung von Bestands- und Flussgrößen (z.B. Verschuldungsgrad als Division von Schulden (Bestandsgröße) mit dem Cashflow (Stromgröße)) als methodische Schwäche gebrandmarkt (z.B. Lagerumschlagshäufigkeit als Verhältnis aus Materialkosten (Stromgröße) und Lagerbestand (Bestandsgröße)). Weitere Probleme sehen die VID-Experten in der Manipulierbarkeit der Ausgangsgrößen und dem Volumeneffekt sowie in dem nicht definierten Prüfungsstichtag. Im Vergleich dazu könne die Zahlungsunfähigkeit einfach und klar wie folgt definiert werden: „Gibt es eine absolute, keine relative Unterdeckung an drei aufeinanderfolgenden Stichtagen, die kongruent zu den Buchhaltungsvorschriften sind oder sich durch Ereignisse innerhalb dieser Zeiträume herauskristallisieren, dann liegt Zahlungsunfähigkeit vor.“ Wird sie anschließend beseitigt, so werden die Wirkungen einer späteren erneuten Zahlungsunfähigkeit nicht zurückverlagert. Abschn. IV der Empfehlungen geht von dieser Definition aus und beinhaltet die rechnerische Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit mittels eines Modells „der drei Schritte auf der Basis absoluter Zahlen“. Das stellen sich die VID-Experten wie folgt unter a) bis d) beschrieben vor (siehe VID-Empfehlungen, Abschn. IV. 1): a) Ausgangsgrößen für die Ermittlung der Zahlungsfähigkeit bzw. Zahlungsunfähigkeit sind die Bestandsgrößen „verfügbare Mittel“ und „fällige Verbindlichkeiten“. Aus der Problematik der Manipulierbarkeit der Verhältnisse der Bestandsgrößen zueinander folgt der Schluss, dass nicht die relative Unterdeckung zum Stichtag und damit eine prozentuale Größe, sondern die absolute Unterdeckung ermittelt werden muss. Gibt es von vornherein keine Unterdeckung, stellen sich die Folgefragen nicht, jedenfalls nicht im Hinblick auf den betrachteten Stichtag. b) Gibt es eine Unterdeckung, ist dem Gesichtspunkt Rechnung zu tragen, dass ausschließlich eine Deckungslücke zum überprüften Stichtag noch nicht den Eröffnungsgrund auslöst. Denn diese Lücke könnte nur eine Momentaufnahme sein. Die Aneinanderreihung von Stichtagen, die täglich aufeinanderfolgen, würde die Liquiditätsverhältnisse genau abbilden, entspricht aber nicht einer praxisnahen Handhabung. Von einem Tag auf den anderen kann sich die Unterdeckung ändern oder sie kann beseitigt sein, dies ist jedoch sehr kurzfristig. c) Praxisnah wäre nach der Feststellung einer Unterdeckung eine Überprüfung zum jeweiligen Monatsende in einem Liquiditätsplan. Dieser Rhythmus und Ausgangsbezugspunkt ist maßgeblich für die Bezahlung vieler wiederkehrender Verbindlichkeiten. Weiterhin erfordern die handels- und steuerrechtlichen Rechnungslegungspflichten, abgeleitet aus den GoB und aus den steuerlichen Fristen, eine Buchführung nach Zeitabschnitten, meistens nach Monaten. Daher bietet sich zunächst der Monatsletzte als maßgeblicher Stichtag an. d) Wenn sich eine maßgebliche Deckungslücke sicher an einem anderen Tag des Monats – prospektiv (vorausschauend) oder retrospektiv (rückblickend) – auftut, so ist an diesem Tag eine Überprüfung nach den nachfolgend genannten Grundsätzen zweckmäßig. Ist an einem ersten Stichtag die Deckungslücke vorhanden – sei es an einem Monatsletzten oder bei Entdecken einer maßgeblichen Lücke, die erkennbar und nicht sicher unverzüglich geschlossen wird –, so entsteht Prüfungs- und Handlungsbedarf. Prospektiv ist dann die zukünftige Entwicklung zu überprüfen, sinnvollerweise am Monatsende (wenn nicht sowieso der erste Stichtag ein Monatsletzter ist). Retrospektiv gilt dasselbe; nur hier ist nicht die am ersten Stichtag vorhandene oder zu erstellende Rechnung relevant, sondern die tatsächliche Situation in der Nachbetrachtung. Vor diesem Hintergrund werden die drei Schritte vom VID wie folgt empfohlen:
Dr. Hans-Jürgen Hillmer, BuS-Netzwerk Betriebswirtschaft und Steuern, Coesfeld
BC 8/2022 |