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JA Editorial 1/2020

Prof. Dr. Hans Kudlich, Universität Erlangen-Nürnberg

Modernisierung des Strafverfahrens?

Im November 2019 hat der Bundestag ein Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens beschlossen. Unter einer Vielzahl von – eher kleineren – Änderungen sind hier insbesondere auch gewisse Verschärfungen des Richterablehnungsrechts sowie des Beweisantragsrechts zu verzeichnen; auf diese und weitere Änderungen wird in einem der Folgehefte auch in einem Einführungsaufsatz eingegangen werden. Speziell die Änderungen im Ablehnungs- und Beweisantragsrecht betreffen dabei zwar bereits lange und umfangreich diskutierte Materien; ob freilich allein der Umstand, dass insoweit Änderungen vorgenommen worden sind, die Bezeichnung als »Modernisierung« gerechtfertigt erscheinen lässt, erscheint durchaus zweifelhaft. In der Tendenz ist hier eine weitere Zurückschneidung von insbesondere Beschuldigtenrechten zu verzeichnen, die im konkreten Fall zwar keine wirklich dramatischen Ausmaße annimmt, sich aber in eine entsprechende Tendenz der letzten Jahre einfügt. Wirklich der »Modernisierung« dient dagegen vielleicht das in das gleiche Änderungsgesetz eingefügte neue Gerichtsdolmetschergesetz, da der Anteil Sprachfremder im Strafverfahren zunimmt (lesenswert zu den damit zusammenhängenden Problemen aus neuester Zeit Kulhanek, Die Sprach- und Ortsfremdheit von Beschuldigen im Strafverfahren, 2019). 
 

Dabei gibt es für Strafrechtswissenschaft und Strafverfahrensgesetzgebung durchaus auch klärungsbedürftige Punkte, auf welche der Topos der »Modernisierung« besser passen würde:

So ist hier zum einen der Umgang mit digitalen Beweismitteln zu nennen. Seitdem in den vergangenen beiden Jahrzehnten nicht nur die Computertechnologie, sondern insbesondere auch das Internet als Tatmittel – und zwar keineswegs allein bei spezifischen Datendelikten – sichtbar an Bedeutung zugenommen haben, spielen auch digitale Beweismittel im Strafverfahren eine immer größere Rolle. Freilich sind solche Daten nicht unmittelbar sinnlich wahrnehmbar, sondern müssen entweder sachverständig gedeutet werden oder in einer lesbaren Form (zum Beispiel als Ausdruck einer Mail) vorliegen. Zwar haben Computerdaten auf den ersten Blick den Vorteil, dass sie relativ problemlos vervielfältigt werden können. Bei genauerem Hinsehen stellt sich dann aber unter Authentizitätsgesichtspunkten die Frage, ob mit einer Sicherung und Kopie nicht auch irgendwelche Veränderungen einhergegangen sind, die jedenfalls der Jurist als informationstechnischer Laie nicht auf den ersten Blick sehen kann.

Hier ist es eine interessante Herausforderung für die Zukunft, im Bereich der forensischen Informatik ähnlich gewisse Standards zu entwickeln, wie sie in anderen forensisch-naturwissenschaftlichen Disziplinen bereits vorliegen. Pro domo sei an dieser Stelle der Hinweis erlaubt, dass ein im Wintersemester gestartetes interdisziplinäres Graduiertenkolleg zwischen Strafrechtlern und Informatikern an der Universität Erlangen-Nürnberg solche Herausforderungen gerade aufgreift.

Ein zweiter viel diskutierter, im Modernisierungsgesetz aber nicht aufgegriffener Punkt ist die audiovisuelle Dokumentation der Hauptverhandlung. Strafprozessuale Hauptverhandlungen werden seit jeher »nur« in schriftlichen Protokollen dokumentiert, welche in großen und schwierigen erstinstanzlichen Verhandlungen vor dem Landgericht nicht einmal Wortlautprotokolle sind, als wichtigstes Beweismittel für Verfahrensrügen (vgl. § 274 StPO) aber von immenser Bedeutung sind. Nicht selten hört man die resignierte Feststellung der Verteidigung, sie habe nach Lektüre von Protokoll und Urteil den Eindruck, »im falschen Film gesessen« zu haben. Eine audiovisuelle Dokumentation könnte hier Abhilfe schaffen und eine vollständigere Grundlage schaffen; das sichere Wissen um die Dokumentation könnte dann auch den Bedarf an zeitraubenden »affirmativen Beweisanträgen« verringern und gegebenenfalls in besonderen Situationen auch einen bisher in dieser Form nicht möglichen »Austauschrichter« (etwa bei einem überraschenden Versterben eines Mitglieds des erkennenden Gerichts) ermöglichen.

Die gegen eine solche Dokumentation vorgebrachten Persönlichkeitsrechte der Aussagenden dürften demgegenüber nicht von so großem Gewicht sein, da die Dokumentation ja gerade nicht öffentlich gezeigt werden, sondern allein verfahrensinternen Zwecken dienen soll. Nicht vernachlässigt werden darf freilich der – gerade in der Anfangsphase – nicht unerhebliche finanzielle und personelle Aufwand, und auch mit Blick auf die Revision sind angesichts des Topos des »Verbots einer Rekonstruktion der Hauptverhandlung« noch Fragen zu klären (die aber wohl keine unüberwindbaren Hindernisse darstellen). Gerade auch im internationalen Vergleich mit teilweise wesentlich fortschrittlicher Dokumentation der Hauptverhandlung ist – und hier schließt sich der Kreis zum Stichwort »Modernisierung« – das hergebrachte Hauptverhandlungsprotokoll allein möglicherweise nicht mehr zeitgemäß.

Schon jetzt ist abzusehen, dass die hier genannten Punkte nicht die einzigen sein werden, welche im neuen Jahrzehnt Strafrechtswissenschaft, Gesetzgebung und Rechtsprechung vor Modernisierungsherausforderungen stellen. Die Juristischen Arbeitsblätter werden natürlich auch diesen Prozess verfolgen und die für die Ausbildung relevanten Fragestellungen und Neuerungen in studierenden- bzw. referendarfreundlicher Form vermitteln.

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