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Prof. Dr. Christoph A. Kern, LL.M. (Harvard), Heidelberg | Mrz 22, 2024
„Die menschliche Seite der Restrukturierung“ – Zweite Veranstaltung der Heidelberger Vorlesungsreihe zur Unternehmenstransformation der Heidelberger gemeinnützigen Gesellschaft für Unternehmensrestrukturierung (HgGUR) und der Juristischen Fakultät der Ruperto Carola Heidelberg.
Im vergangenen Jahr startete die Heidelberger Vorlesungsreihe zur Unternehmenstransformation mit einer Veranstaltung zum Thema „Brüsseler Restrukturierungsimpulse“ (NZI aktuell Heft 21/2023). Einen praktisch überaus wichtigen Be-reich hat der Unionsgesetzgeber in seinen bisherigen Vorhaben auf dem Gebiet des Insolvenz- und Restrukturierungsrechts allerdings ausgespart: das Arbeitsrecht. Diesem Be-reich galt die zweite Veranstaltung der Vorlesungsreihe am 23. Februar 2024. „Die menschliche Seite der Restrukturierung“ beleuchteten unter verschiedenen Perspektiven drei namhafte Referenten: Prof. Dr. Markus Stoffels, Heidelberg, Rechtsanwalt Dr. Burkard Göpfert, LL.M. (Columbia), sowie Prof. Dr. Wolfgang Däubler, Bremen/Dußlingen.
Das Programm, das ein großes Publikum ins vorfrühlingshafte Heidelberg gelockt hatte, ging dabei vom Besonderen zum Allgemeinen: Stoffels nahm eine aktuelle Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts zum Anlass, das Recht des Betriebsübergangs in der Insolvenz zu beleuchten und Handlungsempfehlungen zu geben. Göpfert betonte die Bedeutung der Gewerkschaften als Gesprächspartner für die Arbeitgeberseite und schilderte aus seiner Sicht gegenwärtige und künftige Strategien von Gewerkschaften sowie deren Hintergründe. Däubler befasste sich allgemein mit den Schwierigkeiten und Chancen einer stärkeren Beteiligung der Arbeitnehmer in Krise und Insolvenz.
I. Aktuelle Entwicklungen im Betriebsübergangsrecht
Eine Unternehmenstransformation, die nicht mit § 613a BGB in Berührung kommt, ist selten: Wo es noch etwas zu restrukturieren gibt, wird fast immer ein Betrieb oder Betriebsteil veräußert und auf einen neuen Rechtsträger übertragen. Schon seit dem Inkrafttreten des § 613a BGB am 19.01.1972 hat dies zur Folge, dass der Erwerber „in die Rechte und Pflichten aus den im Zeitpunkt des Übergangs bestehenden Arbeitsverhältnissen ein[tritt]“. Dieser Übergang der Arbeitsverhältnisse auf den Erwerber kann erwünscht oder unerwünscht sein – in dem einen wie dem anderen Fall gilt es, die rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten sinnvoll zu nutzen.
Stoffels stellte in seinem Vortrag die Rechtsfolge und dort die Frage nach dem „Wer“ in den Vordergrund, konzentrierte sich damit also ganz auf die „menschliche Seite“. Zu Beginn rief er in Erinnerung, dass der Arbeitnehmerbegriff des § 613a BGB trotz starker unionsrechtlicher Prägung der Norm durch die Betriebsübergangsrichtlinie nach wie vor nicht ein autonom-europäischer sei, sondern die Richtlinie insoweit auf das nationale Recht verweise (Art. 2 I Buchst. d Richtlinie 2001/23/EG). Der europäische Arbeitnehmerbegriff, wie er etwa der Arbeitnehmerfreizügigkeit zugrunde liege, sei sehr viel weiter als der deutsche. Aus deutscher Sicht sei Voraussetzung ein unmittelbares Arbeitsverhältnis des Arbeitnehmers mit dem Veräußerer des Betriebs oder Betriebsteils, sodass Leiharbeitnehmer nicht erfasst würden. Schwierige Fragen ergäben sich bei Arbeitnehmerüberlassung innerhalb eines Konzerns. § 613a BGB komme nur zur Anwendung, wenn das Arbeitsverhältnis gerade dem veräußerten Betrieb oder Betriebsteil zuzuordnen sei. Das BAG stelle insoweit auf das Direktionsrecht des Arbeitgebers ab; führe dies zu keinem eindeutigen Ergebnis, komme es auf die überwiegende Eingliederung an. Dementsprechend sei das Direktionsrecht bei einem geplanten Teilbetriebsübergang ein wichtiges Gestaltungsinstrument. Zwar erklärt § 613a IV 1 BGB die Kündigung eines Arbeitnehmers „wegen des Übergangs eines Betriebs oder eines Betriebsteils“ für unwirksam. Vor gut zwanzig Jahren schon habe aber das BAG die Veräußererkündigung nach Erwerberkonzept nicht für unwirksam gehalten, wenn der Arbeitsplatz nach dem Sanierungskonzept des Erwerbers wegfalle (BAGE 105, 338 = NZI 2003, 674). Das Risiko trage freilich der Erwerber, da er, wenn die Kündigung des Veräußerers unwirksam sei, das auf ihn übergegangene Arbeitsverhältnis nur nach den allgemeinen Regeln kündigen könne. Auch bei einem Erwerb aus der Insolvenz komme ihm dann u.a. § 113 InsO nicht mehr zugute.
Für die Restrukturierung bemerkenswert sei ein Urteil des BAG vom 20.07.2023 (NJW 2024, 234) zur Anwendung des § 613a BGB auf Geschäftsführer einer GmbH. Nicht nur in extremen Ausnahmefällen, in denen der Geschäftsführer derart weisungsgebunden sei, dass er Arbeitnehmerstatus habe, sondern auch dann, wenn – wie in dem dieser Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt – ein früherer Arbeitsvertrag nicht durch einen Geschäftsführer-Dienstvertrag ersetzt wurde, komme nach dem BAG § 613a BGB zur Anwendung, und zwar unabhängig von einem Fortbestehen der Organstellung. Ganz offen sei dann aber, welche Tätigkeit der Arbeitnehmer schulde bzw. ob der Arbeitnehmer einen Anspruch auf Beschäftigung als Geschäftsführer habe; dies werde man kaum annehmen können. Für einen Teilbetriebsübergang könne diese Argumentation jedoch nicht greifen. Damit gebe es einigen Raum für gestalterische Maßnahmen. Jedenfalls beim Übergang des gesamten Betriebs sei zu beachten, dass der Geschäftsführer auf der Grundlage eines Geschäftsführer-Dienstvertrags, nicht eines Arbeitsvertrags, tätig sei; notfalls müsse die Beendigung des Arbeitsverhältnisses und der Abschluss eines Dienstvertrags vor Betriebsübergang nachgeholt werden. Bei jeder Gestaltung im Betriebsübergangsrecht bleibe allerdings das Risiko, dass der Europäische Gerichtshof die Reichweite des Verweises auf nationales Recht für den Arbeitnehmerbegriff beschränke.
II. Union Activism und Personalpolitik in der Restrukturierung
Die Unsicherheit beim Arbeitnehmerbegriff griff Göpfert sogleich auf und formulierte eingängig, wir tanzten um den europäischen Arbeitnehmerbegriff herum. Unsicherheit für die Arbeitgeberseite gebe es auch beim ganz praktischen Umgang mit den Arbeitnehmern in Unternehmenstransformationen und darüber hinaus. Die Zeiten, in denen Arbeitgeber darauf vertrauen konnten, wegen eines geringen Organisationsgrads ihrer Belegschaft „werde nichts passieren“, seien vorbei. Die alte, bis heute ungelöste Frage nach dem Verhältnis von Arbeit und Kapital stelle sich mit neuer Schärfe, was auch an wirkmächtigen Bildern mit – neuerdings gelben – Westen, nicht nur mit Blick nach Frankreich, erkennbar sei.
Für die Arbeitgeberseite sei die Sozialpartnerschaft von hohem Wert. Bestehe eine Gewerkschaft, bringe das dem Arbeitgeber den Vorteil, nur mit einem Partner verhandeln zu müssen, der zumeist kalkulierbar politisch agiere. Es lohne sich, mit diesem Partner ein langfristiges Verhältnis aufzubauen. Die so entstandene Sozialpartnerschaft, ein großer Standortvorteil Deutschlands, sei aber in Gefahr. Denn die Gewerkschaften transformierten sich angesichts sinkender Mitgliederzahlen, die zwangsläufig auch zu geringeren Einnahmen führten, selbst. Sie setzten zunehmend darauf, mit neuen Instrumenten und neuen Allianzen, wie etwa mit Aktionsbündnissen, die Öffentlichkeit zu mobilisieren und darüber mehr Wirkmacht zu erlangen. Das sei beispielsweise im März 2023 der Fall gewesen, als die Gewerkschaft ver.di und das Aktionsbündnis Fridays for Future erstmals gemeinsam am 03.03.2023 im Rahmen eines Aktions-Streiktages für die „Mobilitätswende“ auf die Straße gingen. An die Stelle eines hohen Organisationsgrades trete immer stärkerer Aktionismus.
Hervorzuheben sei hier die Finanzierung von Einzelaktionen durch Nichtmitglieder im Wege des Crowdfunding, die Besetzung neuer Themen, etwa der Nachhaltigkeit, und die Auswahl medienwirksamer „Leuchtturm“-Betriebe, bei denen gewöhnliche Transformationsmaßnahmen nun Arbeitskämpfe hervorriefen, mit denen Gewerkschaften Aufmerksamkeit erlangen wollten.
Diese Entwicklung bedeute zweierlei. Zum einen könne es zu Konflikten zwischen den Interessen der konkreten Arbeitnehmerschaft und ihrer Vertretung im Betriebsrat und den Interessen der Gewerkschaft kommen, was wiederum die Freiheit und Unabhängigkeit der Berater des Betriebsrats bedrohe. Zum anderen müssten die Arbeitgeber unabhängig vom Organisationsgrad bei Betriebsänderungen nicht nur mit einem eventuell paralysierten Betriebsrat, sondern mit demjenigen reden, der die Macht hat – den aktivistischen Gewerkschaften. Die Forderungen würden hier auch teilweise extremer und stellten häufiger wieder auf Sonderleistungen für Gewerkschaftsmitglieder ab. Die Arbeitgeberseite müsse sich sodann überlegen, ob sie hier nicht im Einzelfall mitgehen sollte, um den Sozialpartner als Partner zu erhalten, darf sich indes auch nicht erpressen lassen. Man müsse Wege zur Gesichtswahrung finden. Die Sozialpartnerschaft insgesamt solle bewahrt werden.
III. Partizipation im Wandel: Wie Beschäftige aktiv zum Erfolg des Transformationsprozesses beitragen können
Däubler griff diese Gedanken sofort auf und fragte, wie die Ergebnisse von Arbeitskämpfen in Zeiten, in denen die Industrie abwandere, Arbeitsplätze abgebaut würden und die schwache Ausstrahlung der Regierung den Blick auf das Eigeninteresse befeure, überhaupt aussehen könnten. Er wies dann kurz auf den Reformentwurf des DGB „für ein modernes Betriebsverfassungsgesetz“ aus dem Jahre 2022 sowie auf Überlegungen hin, die Begünstigungen für Gewerkschaftsmitglieder über Bonuszahlungen hinaus vorsähen. Dann wandte er sich der Rolle der Arbeitnehmerschaft in der Krise zu. Die Hindernisse, die einer fruchtbaren Einbeziehung entgegenstünden, seien nicht zu unterschätzen. So reagierten die Arbeitnehmer verständlicherweise mit Skepsis, wenn man sie erst in der Krise einbeziehen wolle, zumal sie nun typischerweise Opfer erbringen sollen. Hinzu komme die elementare Unsicherheit über die Ausrichtung unserer Wirtschaft und die Kompetenz des Managements, habe man doch in Deutschland die E-Mobilität und andere Trends nicht rechtzeitig als Problem wahrgenommen. Statt in der Krise bei einer Transformationsmaßnahme aktiv mitzumachen, wanderten qualifizierte Arbeitnehmer eher in ein „modernes“ Unternehmen ab. Schließlich könnten Arbeitnehmer in bestimmten Bereichen wenig beitragen. Diesen Hindernissen stellte er die Vorteile einer kontinuierlichen Arbeitnehmerbeteiligung entgegen. In die Organisation der Arbeitsprozesse könnten Arbeitnehmer viel einbringen; anders als das Management wüssten sie über Hindernisse und Chancen eines reibungslosen Arbeitsablaufs sehr gut Bescheid. Verbesserungsvorschläge ließen sich innerhalb der Hierarchie aber oft nicht erfolgreich anbringen, da die nächsthöhere Ebene sie als Kritik an ihrer eigenen Arbeit verstehe und den Zusatzaufwand scheue. Er illustrierte diesen Gesichtspunkt mit anschaulichen Beispielen und dem bekannten Satz „Wenn Siemens wüsste, was Siemens weiß“. Hieraus leitete er das Petitum ab, Verbesserungsvorschläge außerhalb der Hierarchie möglich zu machen und die Vergütung für Arbeitnehmererfindungen deutlich zu erhöhen. Vor allem aber plädierte er für eine „bessere Mitbestimmung“. Die geltenden Regeln würden oft nicht ausreichend genutzt. Dies hänge damit zusammen, dass vieles bereits im Vorfeld gelaufen, die Telefonanlage oder die Software bereits angeschafft sei. Der Betriebsrat sei so vor „alternativlose“ Situationen gestellt. Um das zu vermeiden, müsse er in den Planungsprozess einbezogen werden und schon bei der Anschaffung neuer Technik als gleichberechtigter Partner handeln können. Es gehe nicht um eine Ausdehnung der Mitbestimmung, sondern primär darum, die bestehenden Rechte wirksam werden zu lassen. Nur so sei die für jede Umsetzung einer Transformationsmaßnahme wichtige Akzeptanz zu erreichen.
IV. Diskussion und Schlussbetrachtung
Wie gut die drei Vorträge den Nerv der Zuhörerschaft getroffen hatten, zeigte die angeregte Diskussion innerhalb des Podiums und mit dem Publikum. Zum Betriebsübergang merkte Stoffels ergänzend an, dass der Arbeitskräftemangel eine Neubewertung vieler Fragen zur Folge habe – nicht zuletzt der Frage nach der Sinnhaftigkeit eines Kollektivwiderspruchs der Arbeitnehmer. Ein Widerspruch habe meist jahrelange Rechtsstreitigkeiten zur Folge, was Arbeitgeber- wie Arbeitnehmerseite belaste. Göpfert betonte, dass ein Betriebsübergang oft viel Porzellan zerbreche. Vor allem ein gerechtes Entgeltsystem müsse von Anfang an mitgedacht werden, um die leistungsfähigen jungen Arbeitskräfte nicht zu verlieren. Ausländische Erwerber, die die deutsche Sozialpartnerschaft nicht kennten, nähmen gelegentlich wenig Rücksicht auf Arbeitnehmerinteressen. Klare gesetzliche Mitbestimmungsrechte könnten den seriösen, auf Ausgleich bedachten deutschen Geschäftsführer in einem internationalen Konzern stärken, da er sich gegenüber Weisungen der Konzernleitung auf entgegenstehendes „local law“ berufen könne. Wichtig sei, dass der Erwerber Versprechen über die Behandlung der Arbeitnehmer einhalte; ein gut geplanter Betriebsübergang könne ein Monitoring-Verfahren vorsehen, das für einen Zeitraum von einigen Jahren laufe. Mirko Geiger von der IG Metall Heidelberg legte Wert auf die Feststellung, dass die IG Metall nicht selten die Betriebe animieren müsse, sich in eine Restrukturierung oder Transformation zu begeben. Dieser Prozess müsse aber gemeinschaftlich stattfinden, was eine bessere Kommunikation voraussetze. Beim Betriebsübergang bedürfe es eines rechtlichen Rahmens, der den Erwerber einbeziehe. Oft fehle es an einer rechtzeitigen Unterrichtung. Däubler ergänzte, dass man den Rahmen des geltenden Rechts ausschöpfen müsse. Von der Politik sei wenig zu erwarten. Sinnvollerweise würden Arbeitgeber und Arbeitnehmer von Anfang an freiwillig kooperieren. Andrej Wroblewski von der IG Metall Vorstandsverwaltung unterstrich, wie wichtig die Einbeziehung sämtlicher Shareholder sei. Man brauche einen gemeinsamen Tisch mit Arbeitnehmerbeteiligung wie den Gläubigerausschuss in der Insolvenz und den Gläubigerbeirat unter dem StaRUG. Michael Pluta stellte anhand eines Beispiels aus der Automobilindustrie heraus, dass der Insolvenzverwalter für alle zuständig und auch ansprechbar sei. Er benötige dringend verlässliche Ansprechpartner. Dagmar Wilbs merkte an, die Beteiligung des einzelnen Arbeitnehmers sei für einen erfolgreichen Betriebsübergang oder eine erfolgreiche Transformation nicht trivial, aber enorm wichtig. Michael Auerbach kam noch einmal auf die Grundfrage von Arbeit und Kapital zu sprechen und ermunterte Däubler zu einer Stellungnahme, woraufhin dieser die „Utopie“ einer „überbetrieblichen Mitbestimmung“ entwickelte, in der die Arbeitnehmerinteressen als gesamtwirtschaftliche und gesamtgesellschaftliche Frage ernst genommen würden. Hierzu müssten sich die Gewichte innerhalb des politischen Systems freilich verändern.
Die Schlussbetrachtung machte noch einmal den roten Faden deutlich, der sich durch die Vorträge und die Diskussion gesponnen hatte. Entgegen einem ersten Eindruck, wonach kluge Sozialpartner ganz im Sinne des Coase-Theorems ungeachtet der gesetzlichen Regelung das Richtige tun würden, habe die Diskussion gezeigt, dass in der Praxis ein Verhandeln „in the shadow of the law“ stattfinde, es also durchaus auch auf die gesetzliche Regelung und deren Auslegung und Anwendung durch die Gerichte ankomme. Gemeinsames Interesse müsse die Bewahrung und Weiterentwicklung der Sozialpartnerschaft sein, was Rücksicht auf den Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit verlange, diese zugleich aber auch stärke.