CHB_RSW_Logo_mit_Welle_trans
jaheader_neu

Schuldnerschutz und Sozialstaat driften auseinander - NZI 15/2024

Prof. Ulrich Keller, Berlin
Seit dem 01.07.2024 sind die neuen Pfändungsfreigrenzen zum Arbeitseinkommen in Kraft getreten (BGBl. 2024 I Nrn. 160, 165a). Die pfandfreien Grundbeträge sind entsprechend der Anhebung des Einkommensteuerfreibetrages um 6,38% gestiegen, was sich auf die Pfändungsbeträge je nach Zahl der Unterhaltspflichten stark auswirken kann. Das wird auch in Insolvenzverfahren über natürliche Personen spürbar sein, die Insolvenzmassen werden wieder geringer, die Gläubigerbefriedigung sinkt, die Notwendigkeit der Kostenstundung wird größer.

 

Eine umgekehrte Entwicklung vollzieht sich im Sozialrecht, was zu einem Auseinanderdriften von Schuldnerschutz und Sozialrecht führt. Schuldnerschutzvorschriften des Vollstreckungs- und Insolvenzrechts haben auch den Sinn, vor Sozialhilfebedürftigkeit des Schuldners zu schützen, damit die Gläubigerbefriedigung nicht zulasten der Allgemeinheit erfolgt. An zwei Beispielen zeigt sich aber, dass der Gesetzgeber das Gewicht zu Gunsten des Sozialrechts verschiebt und sowohl Schuldner- als auch Gläubigerbelange nicht beachtet: Die selbstgenutzte Immobilie des Schuldners unterliegt voll dem Insolvenzbeschlag, sie ist nicht geschützt. Dem Schuldner wird gesagt, er könne ja aus seinem pfandfreien Vermögen zur Miete wohnen. Spätestens mit der Umbenennung von ALG II in Bürgergeld wird aber deutlich, dass die großzügige Verschonungsregel des Sozialrechts mit dem Insolvenzrecht kollidiert. § 12 I Nr. 5 SGB II verschont großzügig die selbstgenutzte Immobilie, sie muss nicht verwertet werden, um Bürgergeld beziehen zu können. Was ist aber, wenn der Insolvenzverwalter oder der Grundpfandrechtsgläubiger die Immobilie verwertet und der Schuldner bürgergeldberechtigt ist oder wird? Ihm wurde dann genommen, was er sozialrechtlich auch im Interesse der Allgemeinheit hätte behalten dürfen. Die Allgemeinheit hätte sich nämlich den Ersatz der Wohnkosten erspart (§ 22 SGB II). Kann das gewollt sein.

Führt der Schuldner ein sog. P-Konto (§§ 850k, 899 ff. ZPO, § 36 I 2 InsO), steht ihm der sog. Basisschutz des § 899 I ZPO iHv 1.500 EUR (seit 01.07.2024) zu. Erhöhungen kann er erhalten, wenn er Unterhaltsverpflichtungen nachweisen kann, zB 561,43 EUR und 312,78 EUR bei zwei Unterhaltsverpflichtungen (§ 902 Nr. 1 Buchst. a), § 850c II ZPO), er hat dann gesamt 2.374,21 EUR monatlich pfandfreies Guthaben. Erhält er aber Bürgergeld für sich und seine Familie, insbesondere auch bei sog. faktischen Unterhaltsverpflichtungen innerhalb einer Bedarfsgemeinschaft, kann der pfandfreie Betrag wegen § 902 Nr. 1 Buchst. b ZPO höher sein, schon die Regelbedarfe für eine Partnerin und ein Kind von 14 bis 17 Jahren sind mit zusammen 977 EUR höher als die unpfändbaren Grundbeträge in Anlehnung an § 850c II ZPO. Damit kann der Bürgergeldempfänger beim P-Konto einen höheren pfandfreien Betrag erhalten als der erwerbstätige Schuldner. Im Einzelfall kann das über § 906 II mit § 850f I Nr. 1 ZPO korrigiert werden, hier liegt die Ungleichheit aber schon im System. Kann das gewollt sein?

Es sollen hier nicht Bezieher von Sozialleistungen gegenüber erwerbstätigen Schuldnern diffamiert werden. Der Staat hat die Aufgabe, das Existenzminimum zu schützen. In dem Widerstreit zwischen Leistungs- und Bedarfsgerechtigkeit muss aber auch ein gerechter Ausgleich zwischen verschiedenen Lebenssituationen gewährleistet werden. Dieser scheint aktuell verloren zu gehen. 

 

Anzeige


NZI Probeabo | Zeitschrift für Insolvenz- und Sanierungsrecht


beck-online Insolvenzrecht plus - Probeabo

Teilen:

Menü