Harmonisierung mit Nebenwirkungen – der schleichende Abschied vom Einheitsverfahren? - NZI 23/2023
Prof. Dr. Stephan Madaus, Halle-Wittenberg
Das jüngere deutsche Recht hat sein Insolvenzrecht gern in nur einem Gesetz verankert. Der Konkursordnung folgte die Insolvenzordnung. Diese Grundsatzentscheidung wurde in beiden Fällen vom Wunsch nach einer separaten Regelung zur präventiven Restrukturierung begleitet, der in beiden Fällen zunächst zugunsten einer vollständigen Einheitslösung verworfen wurde, um dann nachträglich in Vergleichsordnung und StaRUG doch erfüllt zu werden. Dies ändert aber nichts an dem Grundsatz, nach dem für alle insolvenzfähigen Rechtssubjekte bei Insolvenzreife dasselbe Insolvenzverfahren gilt.
Dieses soll dazu dienen, in einem offenen Wettbewerb die für die Gläubiger beste Lösung zu identifizieren und umzusetzen. Insolvente Ruheständler durchlaufen also im Kern dasselbe Liquidationsverfahren mit Gläubigerherrschaft und Insolvenzplanoption wie DAX-Konzerne.
Der Preis der konzeptionellen Einheitlichkeit folgt aus der mit ihr notwendigerweise verbundenen Pauschalität. Sanierungswürdige Unternehmen müssen denselben Entscheidungsprozess durchlaufen wie Zerschlagungskandidaten. Eine geschützte Planoption wie in Chapter 11 des US-Rechts wurde (bewusst) nicht etabliert. Der Sanierungsplan steht so, auch in einem „Schutzschirmhauptverfahren“, stets in dem Risiko, in einen Dual-Track zu geraten und durch eine Veräußerungslösung überholt zu werden. Ist die schnelle übertragende Sanierung ohnehin von vornherein die bevorzugte Lösungsstrategie, so kann sie in einem – im Interesse der Insolvenzgeldvorfinanzierung überlangen – Eröffnungsverfahren notgedrungen nur abschlussreif verhandelt, um dann unmittelbar nach der Eröffnung endlich umgesetzt zu werden. Sonderwege, ja Abkürzungen, fehlen, was gerade in den Fällen bemerkbar wird, in denen die Verwertungslösung nicht erst im Wettbewerb entdeckt werden soll, sondern bereits zu Beginn des Verfahrens feststeht. Aus diesem Grund passen die Einheitsregeln auch kaum für Privatinsolvenzen, in denen sich etwa einkommens- und vermögenslose Privatperson auch dann einer Gläubigerversammlung stellen müssen, wenn ihr Verfahren keine Verwertungs-, sondern allein Entschuldungsthemen aufruft. Sie dürfen im Gegenzug einen Insolvenzplan vorlegen, der von ihnen dieselben Informationen verlangt wie von einem Unternehmen.
Das Gegenteil des Einheitsverfahrens sind maßgeschneiderte Sonderverfahren für klar definierte Insolvenz- oder Restrukturierungssituationen. Viele Rechtsordnungen kennen sie: reine Restrukturierungsverfahren vor und in der Insolvenz, reine Entschuldungsverfahren für Privatpersonen, „Pre-pack administrations“. Als „best practices“ im europäischen Insolvenzmarkt erreichen sie Harmonisierungsinitiativen der EU und erzeugen so als Nebenwirkung auch Druck auf die Einheitsidee des deutschen Insolvenzrechts. Den Sonderverfahren für Kreditinstitute könnten Sonderverfahren für andere Unternehmensgruppen folgen. Die Diskussion um den Sinn und die Effizienz des Einheitsverfahrens hat gerade erst begonnen.