Prof. Dr. Dres. h. c. Rolf Stürner, Freiburg
Einmal mehr bemüht sich der deutsche Gesetzgeber um die Gestaltung von Massenverfahren über Geldentschädigungen im Rahmen der Umsetzung einer entsprechenden europäischen Richtlinie (EU) 2020/1828 (VRUG). Die meisten Versuche auf nationaler und internationaler Ebene kranken daran, dass sie zu sehr an der Vorstellung von Individualansprüchen festhalten, deren Summe vom Ausgleich voll erfasst sein soll.
So auch jetzt der Regierungsentwurf, der im sog. Abhilfeverfahren von einer nachbesserungsfähigen Entscheidung über die Höhe der Verteilungsmasse ausgeht, falls sie nicht für alle Ansprüche ausreicht, und noch zusätzlich von der fortbestehenden Möglichkeit nachträglicher Einzelklagen, wenn der zugeteilte Betrag niedriger ist als der in einem Einzelverfahren nachweisbar geschuldete Einzelbetrag.
Dies wird in Massenklagen mit Zehn- oder Hunderttausenden von Anspruchstellern zu sehr langwierigen Verfahren führen und lange währender Unsicherheit für Anspruchsteller und beanspruchte Unternehmen, insbesondere aber die Ziviljustiz überfrachten und lahmlegen, weil solche Anspruchsmengen nach traditionellen Regeln schlechthin nicht justitiabel sind. Es handelt sich also um potenzielle, nicht voll justitiable Ansprüche, deren Wert geschätzt werden muss, sollen sie überhaupt durch gerichtsförmige Verfahren sinnvoll realisierbar sein. Ausreichen müssen dabei Plausibilität und Schätzung sowohl der zu bildenden Verteilungsmasse als auch der nach Gruppen zu gliedernden Einzelzuweisungen mit der zwingenden Folge nur beschränkter Anfechtbarkeit in Fällen klar fehlerhafter oder missbräuchlicher Gestaltung.
Das Insolvenzrecht bedient sich ähnlicher Plausibilitätskontrolle bei der Listung von Ansprüchen und bei ihrer Bewertung vor allem im Insolvenzplanverfahren (Cram Down, Bestätigung eines Plans auf Grund von Bewertungsgutachten) oder bei zwangsweiser behördlicher Bankenabwicklung. Es gibt genügend – in Einzelheiten durchaus variierende – Vorschläge, die solche Beschränkungen aus Gründen notwendiger Verhältnismäßigkeit individueller Rechtsverfolgung in Massenverfahren ausreichend verwirklichen (zB ELI/UNIDROIT Model European Rules of Civil Procedure r. 216, 228; Stadler FS Ebke, 2021, 939 (944 ff.); Stürner ZZPInt 17 (2012), 259 (286); Bruns, Umsetzung der Verbandsklagerichtlinie, 2022, insb. S. 80 ff.).
Wenn sich solche Vorstellungen – auch angesichts reichlich unklarer Vorgaben des Unionsgesetzgebers – nicht wenigstens teilweise durchzusetzen vermögen, dann droht das deutsche Massenentschädigungsverfahren einmal mehr zu einem länglichen Justiztheater zu missraten, das niemanden befriedigen kann. Spätere Kompensation reichlich defizitärer gesetzlicher und administrativer Prävention ist immer „less than perfect“.