RA Dr. Felix Mocker, Frankfurt a.M., und RA Dr. Carlo Tunze, Düsseldorf
Am 20.02.2023 fand der 24. Leipziger Insolvenzrechtstag statt. Durchgeführt wurde die Veranstaltung in diesem Jahr zum zweiten Mal im Hybrid-Format im Leipziger Kubus wie auch per Online-Teilnahme. Als Gastgeber begrüßte Prof. Dr. Christian Berger die Teilnehmer vor Ort und Online und wies nach kurzer Vorstellung des Tagungsprogramms darauf hin, dass die Vorträge ohne Anschluss- und Zwischenfragen der Teilnehmer durchgeführt werden. Raum dafür und für weitergehende Diskussionen gab es traditionell in den nachmittäglichen Workshops.
Aktuelle Rechtsprechung zum Insolvenzrecht
Den Auftakt zum Tagungsprogramm bildete der Vortrag von RiBGH a. D. Prof. Dr. Markus Gehrlein, der einen Überblick über aktuelle insolvenzbezogene Entscheidungen der Senate des BGH gab.
Gehrlein begann mit der Vorstellung des BGH-Urteils vom 28.06.2022 (BGH NZI 2022, 787) und erläuterte anhand dessen ausführlich den Begriff der Zahlungsunfähigkeit nach § 17 InsO. Im Ausgangspunkt wies er darauf hin, dass Zahlungsunfähigkeit iSd § 17 II InsO nicht immer durch die Aufstellung einer Liquiditätsbilanz dargelegt werden muss, da hierfür häufig die erforderlichen Kennzahlen unbekannt seien. Vor diesem Hintergrund referierte er weitere vom BGH anerkannte Methoden zur Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit (BGH NZI 2022, 787). Im Zusammenhang mit dieser Entscheidung wurde auch die Frage erörtert, ob die Ersatzpflicht des Beklagten für Zahlungen gem. § 64 S. 1 GmbHG aF aufgrund von Kompensation durch ein Downstream-Loan der Muttergesellschaft entfallen könne.
Im Anschluss erläuterte Gehrlein anhand zweier weiterer BGH-Entscheidungen die Abgrenzung von Einzel- und Gesamtschaden iRv § 92 InsO. Ein Gesamtschaden sei durch den Tatbestand der Masseverkürzung geprägt. Ein von § 92 InsO nicht erfasster Einzelschaden liege hingegen vor, wenn der Gläubiger nicht als Teil der Gläubigergesamtheit, sondern individuell geschädigt wird (BGH NJW 2022, 2542). Ein Gesamtschaden iSd § 92 InsO sei auch dann nicht gegeben, wenn bereits durch vorinsolvenzliche Handlungen ein Quotenschaden für einzelne Gläubiger entstanden ist. Denn in diesem Fall entstehe eine Insolvenzforderung, die nach Maßgabe der §§ 174 ff. InsO zu verfolgen wäre (BGH NZI 2022, 118 mAnm Abel NZI 2022, 120).
Gehrlein widmete sich sodann der Grundsatzentscheidung des BGH zur Zuordnung des Verwertungsrechts von mit Absonderungsrechten belasteten Markenrechten im Insolvenzverfahren (NZI 2023, 74 mAnm Ganter NZI 2023, 79). Das Verwertungsrecht sei nach § 173 InsO dem absonderungsberechtigten Gläubiger zugewiesen. Eine entsprechende Anwendung des § 166 InsO auf sog. sonstige Rechte scheide aus.
Abschließend referierte Gehrlein eine Reihe von Entscheidungen zur Insolvenzanfechtung. Er ging insbesondere auf die Neuakzentuierung der Rechtsprechung des BGH zur Vorsatzanfechtung ein, wonach die Kenntnis des Schuldners von der eingetretenen Zahlungsunfähigkeit bei der kongruenten Deckung als Beweisanzeichen für den Gläubigerbenachteiligungsvorsatz nicht genüge, sondern der Schuldner bei optimistischer Betrachtung auch nicht davon ausgehen dürfe, dass er wieder zahlungsfähig wird. Diese Rechtsprechung sei deshalb zu kritisieren, weil dadurch ein Begriff der Zahlungsunfähigkeit kreiert werde, denn das Gesetz nicht kenne. Ferner erzeuge diese Rechtsprechung Widersprüche zu der Insolvenzantragspflicht nach § 15a InsO. Vor diesem Hintergrund referierte Gehrlein eine weitere BGH-Entscheidung zur Vorsatzanfechtung, wonach eine sekundäre Darlegungslast des Insolvenzverwalters für die Fortdauer der Zahlungseinstellung bestehe (BGH NZI 2022, 397 mAnm Göb NZI 2022, 400).
Zur Schenkungsanfechtung nach § 134 InsO wies Gehrlein auf den jüngst vorgelegten Richtlinienentwurf der EU-Kommission hin. Darin heiße es, dass auch solche Rechtsgeschäfte der Schenkungsanfechtung zu unterwerfen seien, bei denen Leistung und Gegenleistung völlig unausgewogen sind. Dieser Aussage stellte Gehrlein zwei Entscheidungen des BGH zu solchen Fällen gegenüber, in denen die Anwendung des § 134 InsO sehr zurückhaltend gehandhabt wurde.
Geschäftsleiterhaftung nach § 15b InsO – aktuelle Streitfragen
Prof. Dr. Georg Bitter ordnete zu Beginn seines Vortrags § 15b InsO in das zweiteilige System der Insolvenzverschleppungshaftung von Innen- und Außenhaftung ein und gab einen Überblick über dessen Tatbestand. Die Schwerpunkte seines Vortrags bildeten sodann die Sorgfaltsausnahme des § 15b I 2 Ins O sowie die Neubestimmung der Rechtsfolge in § 15b IV InsO.
Einleitend skizzierte Bitter den zeitlichen und persönlichen Anwendungsbereich des § 15b InsO. Hinsichtlich der Haftungsadressaten des § 15b InsO sei fraglich, ob die frühere Differenzierung zwischen gesetzlich verpflichteten Aufsichtsräten und fakultativen Aufsichtsräten auch im neuen Recht aufrechterhalten werden müsse. Nach kurzer Darstellung des Meinungstandes sprach sich Bitter dafür aus, die Differenzierung auch unter Geltung des neuen Rechts beizubehalten, wonach der freiwillige Aufsichtsrat – nach wie vor – nicht von der Geschäftsleiterhaftung erfasst sei. Bitter behandelte sodann kurz den weiten Zahlungsbegriff des § 15b InsO und rief dabei schwerpunktmäßig die Behandlung von Zahlungen auf ein debitorisch geführtes Bankkonto in Erinnerung. Danach stelle nach Ansicht des BGH der Kontoeingang auf dem debitorischen Konto eine Zahlung iSd § 15b InsO dar, während der Kontoausgang einen bloßen Gläubigertausch begründe. Hierbei sei fraglich, ob diese Differenzierung unter der Neuregelung des § 15b IV InsO noch aufrechterhalten werden könne. Bitter plädierte dabei gegen eine solche Einzelbetrachtung und sprach sich vielmehr für eine Gesamtbetrachtung der einzelnen Zahlungsflüsse aus.
Bitter stellte sodann den Anwendungsbereich der neuen Sorgfaltsausnahme des § 15b I 2 InsO vor, wonach diejenigen Zahlungen von dem Haftungsregime des § 15b I InsO nicht erfasst werden, die mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters vereinbar sind. Konkretisierung erfahre der Sorgfaltsmaßstab durch § 15b II, III und VIII InsO, wobei Bitter darauf hinwies, dass es sich dabei mehr um eine Korrektur als um eine Konkretisierung handele. Bei der Anwendbarkeit der Sorgfaltsausnahme werde nach dem Stadium des Insolvenzgeschehens differenziert: Nur bei fehlender Insolvenzverschleppung (also während der laufenden Drei- bzw. Sechswochenfrist oder nach Antragstellung) gelte der großzügigere Maßstab des § 15b II InsO. Sei hingegen der Tatbestand der Insolvenzverschleppung erfüllt, komme nach § 15b III InsO die Anwendung der Sorgfaltsausnahme idR nicht in Betracht.
Anschließend behandelte Bitter drei Problemkreise der Sorgfaltsausnahme näher. Zunächst ging er der Frage nach, was unter „Zahlungen im ordnungsgemäßen Geschäftsgang“ iSd § 15b II InsO zu verstehen sei, wobei er für eine sehr weite Auslegung plädierte. Gerade diejenigen Geschäftsleiter, denen nicht der Vorwurf der Insolvenzverschleppung gemacht werden könne, müssten durch die weite Auslegung privilegiert werden. Sodann behandelte Bitter die Fälle, in denen die Sorgfaltsausnahme des § 15b I 2 InsO trotz Insolvenzverschleppung ausnahmsweise anzuwenden sei. Hierzu vertrat Bitter einen restriktiven Ansatz. Der dritte Problemkreis betraf das Spannungsverhältnis zwischen dem Zahlungsverbot des § 15b I InsO und den Zahlungsgeboten der § 266a StGB, §§ 34, 69 AO. Vor dem Hintergrund der Neuregelung des § 15b VIII InsO bestünden in sog. Verschleppungsfällen steuerrechtliche Zahlungspflichten für den Geschäftsleiter fort. Wenn der Geschäftsleiter sich hingegen noch in der Drei- bzw. Sechswochenfrist oder sich schon im Eröffnungsverfahren befindet, räume § 15b VIII InsO – in Abkehr zur bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung – der Massesicherungspflicht den Vorrang vor dem steuerrechtlichen Abführungsgebot ein. Bitter wies darauf hin, dass die Pflicht des Geschäftsleiters zur Abführung von Arbeitnehmerbeiträgen zur Sozialversicherung (§ 266a StGB) in § 15b VIII InsO überraschenderweise nicht behandelt wird. Dies führe für Geschäftsleiter zu großen Unsicherheiten. Auch in der Literatur sei kein klarer Meinungsstand erkennbar; sowohl die entsprechende Anwendung des § 15b VIII InsO auf § 266a StGB als auch die Annahme eines Gegenschlusses würden vertreten.
Als zweiten Schwerpunkt behandelte Bitter die Rechtsfolgenseite des § 15b InsO. Bezüglich der Vorgängernorm § 64 S. 1 GmbHG aF sei umstritten gewesen, ob jede einzelne sorgfaltswidrige Zahlung ersatzfähig (Einzelbetrachtung), oder nur der Ersatz der Masseschmälerung geschuldet war (Gesamtbetrachtung). Bitter verwies für § 15b IV InsO auf die Gesetzesbegründung, wonach beide Konzepte zusammengeführt werden sollten. Während der Insolvenzverwalter die einzelnen Zahlungen haftungsbegründend vortragen könne, bliebe dem Geschäftsleiter der Einwand nach § 15b IV 2 InsO, dass der Gläubigergesamtschaden insgesamt geringer und seine Haftung entsprechend begrenzt sei. Wie ein solcher Gesamtschaden zu berechnen ist, sei jedoch offen. Hierfür hätten sich drei unterschiedliche Bemessungsmethoden herausgebildet. Für deren praktische Relevanz verwies Bitter auf einen demnächst erscheinenden Aufsatz von Trenker, der anhand der von Rechenbeispielen die Unterschiede der Ermittlungsmethoden kontrastieren.
Zum Ende des Vortrags verwies Bitter auf die Schwerpunkte des nachmittäglichen Workshops, insbesondere Fragen der Darlegungs- und Beweislast iRd § 15b IV InsO.
Stand und Zukunft der Überschuldung
Prof. Dr. Ulrich Haas gab zunächst einen historischen Überblick über die Entwicklung des Überschuldungsbegriffs. Er resümierte, der Überschuldungstatbestand sei im Laufe der Jahre immer mehr zurückgefahren worden. In seinem Vortrag untersuchte Haas sodann die praktischen Auswirkungen dieser Entwicklung auf die vier Teilbereiche, für die der Überschuldungstatbestand Steuerungselement sein kann bzw. bereits ist.
Haas behandelte zunächst die Überschuldung als insolvenzauslösenden Tatbestand neben der Zahlungsunfähigkeit. Nach kurzer Erläuterung der Hintergründe der zweigleisigen Ausgestaltung der deutschen Eröffnungstatbestände kam er nach Auswertung der Insolvenzstatistiken zu dem Ergebnis, dass die Überschuldung als Eröffnungstatbestand ohnehin nur eine sehr geringe praktische Bedeutung habe.
Sodann beleuchtete Haas die Relevanz des Zurückfahrens des Überschuldungstatbestandes für die Organisationsverfassung der Gesellschaft. Er wies zunächst darauf hin, dass ab dem Zeitpunkt der Überschuldung der Geschäftsleiter vor dem Hintergrund des § 64 S. 1 GmbHG aF bzw. § 15b InsO keine Weisungen mehr von der Gesellschafterversammlung befolgen dürfe, die sich auf den Umgang mit dem Aktivvermögen beziehen. Die Restriktion des Überschuldungstatbestandes habe daher auf die Organisationsverfassung eine enorme Auswirkung, da dadurch die Gesellschafter länger ihr Weisungsrecht gegenüber der Geschäftsleitung behielten. Dies sei problematisch, da die Gesellschafter gerade in dieser sehr sensiblen Phase in der Regel ein größeres Interesse an Risikoerhöhung hätten.
Auf das an die Überschuldung anknüpfende Haftungsmodell habe das Zurückführen des Überschuldungstatbestandes hingegen keine praktischen Auswirkungen, was zunächst daran liege, dass die Ermittlung eines Quotenschadens faktisch nicht durchführbar sei. Auch gegenüber Neugläubigern spiele die Überschuldung als Haftungstatbestand keine praktische Rolle, da sie für diese faktisch nicht erkennbar sei und daher die darlegungs- und beweisbelasteten Neugläubiger das negative Interesse kaum ermitteln könnten.
Abschließend beleuchtete Haas die Bedeutung des Überschuldungsbegriffs für die Insolvenzanfechtung. Rechtsvergleichend blickte er eingangs auf Länder wie die Schweiz oder Österreich, in denen Anfechtungstatbestände an den Überschuldungstatbestand gekoppelt sind. In Deutschland werde die Überschuldung hingegen nur als ein schwaches Indiz für den Gläubigerbenachteiligungsvorsatz iRd § 133 InsO herangezogen. Das Zurückfahren des Überschuldungstatbestandes habe daher hinsichtlich der Insolvenzanfechtung kaum praktische Bedeutung.
Haas fasste zusammen, dass der Überschuldungstatbestand Anknüpfungspunkt für verschiedene Steuerungselemente sein könne, wobei keine Notwendigkeit für einen Gleichlauf zwischen den verschiedenen Steuerungselementen bestehe. Derzeit werde die Diskussion, wie der Überschuldungstatbestand sinnvoll auszugestalten sei, lediglich verkürzt bezüglich der Insolvenzauslösung geführt. Dies sei gegenwärtig aber die unwichtigste Funktion des Überschuldungstatbestands. Haas regte an, nach dem Vorbild anderer europäischer Rechtsordnungen über eine differenzierte Betrachtung des Überschuldungstatbestands nachzudenken.
Aktuelles zum Verbraucher- und Restschuldbefreiungsrecht
Den Abschluss des Veranstaltungstages bildete das Forum zum Verbraucher- und Restschuldbefreiungsrecht. Seinen Vortrag begann Rechtsanwalt Kai Henning mit einem kurzen Überblick über die Statistik der eröffneten Verbraucherinsolvenzen seit 1999. Sodann ging er auf die gem. Art. 107a EGInsO im Jahr 2024 anstehende Evaluierung der zum 01.10.2020 eingeführten Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens auf drei Jahre ein. Henning wies darauf hin, dass sich die Evaluierung auch damit befassen müsse, welche etwaigen Hindernisse für einen wirtschaftlichen Neustart nach Erteilung der Restschuldbefreiung durch die Speicherung insolvenzbezogener Informationen, zB durch Wirtschaftsauskunfteien, bestehen. Anlass gäbe hierfür die Entscheidung des OLG Schleswig vom 02.07.2021 (NZI 2021, 794 mAnm Gutowski NZI 2021, 798, Rev. anhängig unter VI ZR 225/21, sowie Urteil vom 03.06.2022 – 17 U 5/22, NZI 2022, 714 mAnm Braegelmann NZI 2022, 719), wonach der Zeitraum der Speicherung insolvenzbezogener Informationen entsprechend der Verordnung zu öffentlichen Bekanntmachungen in Insolvenzverfahren im Internet auf sechs Monate zu reduzieren sei. Hierzu sei alsbald auch eine Entscheidung des EuGH zu erwarten.
Im Anschluss führte Henning durch verschiedene Entscheidungen des vergangenen Jahres zum pfändbaren Einkommen im Zusammenhang mit Coronasonderzahlungen, Energiepreispauschale und Inflationsausgleichsprämie. Nach einem kurzen Überblick über die jüngsten Judikate zur Pfändbarkeit von PKW wies Henning auch auf die Entscheidung des OLG Karlsruhe hin, wonach die vor Insolvenzeröffnung erfolgte Umwandlung einer Lebensversicherung in eine nach § 851c ZPO geschützte Altersvorsorgeversicherung nicht anfechtbar sei (NZI 2022, 332). Abschließend ging Henning auf jüngere Entscheidungen zum Pfändungsschutzkonto ein, wobei er die Zuhörer insbesondere für Entscheidungen des BGH zur Beseitigung der Verstrickung des Guthabens auf einem Pfändungsschutzkonto des Schuldners sensibilisierte (BGH NZI 2021, 489; NZI 2022, 439).
Berger sprach abschließend Dank an alle Referenten, Teilnehmer und Organisatoren aus und gab einen kurzen Ausblick auf die im Anschluss angesetzte Abendveranstaltung sowie den am Folgetag stattfindenden Leipziger Insolvenzsteuerrechtstag (LIST). Er entließ sodann die Präsenz- wie Onlineteilnehmer mit dem Wunsch, viele zum 25. LIT wieder begrüßen zu können. Dieser wird traditionsgemäß am nächsten Rosenmontag, dem 12.02.2024, stattfinden.