Rein virtuell und verwalterlos – kann Deutschland solche Insolvenzverfahren? - NZI 4/2023
Prof. Dr. Stephan Madaus, Halle-Wittenberg
Der Richtlinienvorschlag der EU-Kommission vom 07.12.2022 („Insolvency III“) beinhaltet ua dezidierte Vorgaben für ein vereinfachtes Liquidationsverfahren für Kleinstunternehmen samt Schuldenregulierung für den Unternehmer. Scheitern solche Unternehmen, so werden derzeit in Deutschland häufig nicht einmal Insolvenzverfahren eröffnet, da Kleinunternehmen schon bei Gründung und Normalbetrieb kaum über Vermögen verfügen und in der Insolvenz die Masse nicht einmal zur Deckung der Verfahrenskosten reicht.
So wurden 2018 und 2019 beispielsweise etwa ein Viertel aller Anträge auf Eröffnung eines Unternehmensinsolvenzverfahrens mangels Masse abgewiesen. Das Insolvenzrecht kann so für einen beachtlichen Teil der insolventen Unternehmen seine Ordnungsfunktion nicht erfüllen. Hinzu kommt, dass gescheiterte Unternehmer die Regulierung des Marktaustritts und damit der Risikoübernahme nicht in einem hierzu passenden Unternehmensinsolvenzverfahren erlangen können, sondern auf ein Privatinsolvenzverfahren verwiesen sind, dass zwar auch masselos eröffnet wird, dann aber ganz auf Verbraucher und Konsumschulden zugeschnitten ist. Mehrfaches Scheitern wird hier sanktioniert. Eine zweite Entschuldung gibt es frühestens nach 16 Jahren. Wehe dem Unternehmer, der – etwa durch eine Pandemie – mehr als einmal die Hilfe des Insolvenzrechts braucht.
Das Fehlen eines effizienten Sonderinsolvenzverfahrens für Kleinstunternehmen bremst nicht nur deutsches Unternehmertum; es wird für Deutschland inzwischen auch im internationalen Vergleich zu Nachteilen führen. UNCITRAL empfiehlt solche Sonderregeln nun ebenso wie die Weltbank. Jedes künftige Benchmarking nationaler Insolvenzrechte wird dies reflektieren müssen und Deutschland wird Plätze einbüßen, bliebe es beim Status Quo. Der Kommissionsvorschlag sollte daher eine Reformdebatte auslösen, die weniger das Ob als das Wie eines Sonderverfahrens in den Blick nimmt.
Interessanterweise hat Spanien im September den Prototyp solcher Verfahren eingeführt. In Deutschland sind erste Stellungnahmen von Skepsis und Argwohn geprägt. Rein digital und potenziell ohne Verwalter? Schaut man auf den Digitalisierungsstand deutscher Gerichte und Gerichtsverfahren, können einem in der Tat Zweifel kommen. Heute ist es gerade der Insolvenzverwalter, der digital arbeitet und dem es obliegt, seine Datenverarbeitung im GIS zu teilen. Immerhin wird an der elektronischen Akte seit Jahren projektiert. Die Zweifel daran, ob deutsche Gerichte das erforderliche Level an Digitalisierung erreichen, dürfen nun nicht zur Blockade notwendiger Reformen in Brüssel und in Berlin führen. Vielmehr gilt für das Insolvenzrecht dasselbe wie in anderen Lebensbereichen: Deutschland muss endlich einen Digitalisierungsstand erreichen, den viele Nachbarstaaten bereits haben.