Die politische Vermeidung von Insolvenzen –ordnungspolitisches Versagen? - NZI 14/2022
Prof. Dr. Stephan Madaus, Halle-Wittenberg
Die Rückkehr des Kriegs in Europa samt Inflation und Mangel an Wirtschaftsgütern wie auch Personal erzeugt ein fortdauerndes Gefühl des Ausnahmezustands, auf welches die Politik wieder mit Unterstützungspaketen reagiert. Hohe Insolvenzzahlen werden dabei zu einem Indikator von Politikversagen. Insolvenzvermeidung ist das Ziel, was man dann wiederum selbst als ordnungspolitisches Versagen brandmarken kann, gern illustriert durch Zombieunternehmen, die gesunden Unternehmen Marktanteile verwehren. In der Summe scheint die Politik im Bereich des Insolvenzrechts aktuell wenig richtig machen zu können.
Vielleicht lohnt aber ein differenzierterer Blick auf die Motivlage. Das deutsche Insolvenzrecht wird – gerade von Insolvenzverwaltern – gern als effektives und effizientes System zur Marktbereinigung und Markterneuerung beschrieben. Träfe dies zu, so scheint es nahezu widersinnig, auf die Anwendung dieses Systems gerade in einer Krise zu verzichten. Ist die Effizienz des Systems also nur seinen Insidern bekannt? Werden der Rest der Wirtschaft und die Politik vom Stigma der Insolvenz geblendet?
Die Antwort auf diese Fragen wird komplexer ausfallen müssen. Der InsO-Gesetzgeber hat sich bewusst dazu entschieden, die Verwertungsentscheidung im deutschen Insolvenzverfahren allein Marktmechanismen zu unterwerfen. Die optimale Verwertungsentscheidung soll als „einzelwirtschaftliche Investitionsentscheidung“ jedes Gläubigers im Verhandlungsprozess entdeckt und von den Beteiligten verwirklicht werden (BT-Drs. 12/2443, 75). Ein solches System beruht auf der Annahme, dass in jedem Insolvenzverfahren aktive Beteiligte den Verhandlungsprozess auf Basis umfassender Informationen initiieren und die zutreffende Entscheidung entdecken. Die Berechtigung dieser Grundannahme war für den nominell größten Anteil an Unternehmen im Markt stets zweifelhaft: Kleinunternehmen haben kaum die Erwartung, in einem Insolvenzverfahren im Verhandlungswege eine Sanierungslösung zu erreichen. Die rationale Passivität ihrer Gläubiger lässt dies kaum zu.
Die Erwartung einer Zerschlagungsentscheidung wird man in Zeiten von Marktverwerfungenaber auch bei größeren Unternehmen finden. Werden Umsatz- und Gewinnprognosen unmöglich, so sind die Verhandlungspartner kaum in der Lage, ihre Investitionsentscheidung, wie vom Gesetzgeber angedacht, rational zu treffen. Vorsicht mahnt zur Deinvestition. Zugleich wird eine Lastenteilung in der exogenen Krise oft schon außergerichtlich erreicht, sodass bei gerichtlichen Verfahren die Bereitschaft zur selbigen oft fehlt. Das Insolvenzsystem erzeugt hier einen Zerschlagungsautomatismus – und dies ist den Beteiligten in Politik und Wirtschaft intuitiv bewusst. Ein auf Marktmechanismen basiertes Insolvenzsystem versagt, wenn kein Vertrauen in die rationale Entscheidungsfindung des Marktes besteht. Jedenfalls Unternehmen mit potenziell fortführungsfähigem Geschäftsmodell sollten es in solchen Zeiten meiden.
Differenzierte Entscheidungsmechanismen scheinen erforderlich, insbesondere für Kleinunternehmen, vielleicht auch für alle in Krisenzeiten. Dies mag die Komplexität des Systems weiter erhöhen, seine Attraktivität und Belastbarkeit allerdings auch.