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Ruhe vor dem Sturm… - NZI 19/2021

RiBGH a.D. Prof. Dr. Markus Gehrlein, Landau
Gegenwärtig sind im Insolvenzrecht keine besonders schwerwiegenden Entwicklungen zu beobachten. Die langwierigen und strengen Beschränkungen der COVID-19-Pandemie erscheinen momentan überwunden, obwohl niemand garantieren kann, ob es in diesem Jahr nicht zu einem erneuten Lockdown kommt.
Die mit dem Auslaufen der Pandemie und der Aussetzung der Insolvenzantragspflicht befürchtete Insolvenzwelle ist bislang allen Unkenrufen zum Trotz ausgeblieben. Das zur Abfederung von wirtschaftlichen Schieflagen geschaffene StaRUG wartet noch auf erste Bewährungsproben, die zu diesem Gebiet bislang veröffentlichten Entscheidungen kann man an einer Hand abzählen. Dieser Zwischenbefund nährt die Hoffnung, dass die mit der COVID-19-Pandemie verbundene Wirtschaftskrise vielleicht doch glimpflicher verläuft als befürchtet. Sichere Prognosen lassen sich aber insoweit gegenwärtig nicht treffen. Dieser tatsächliche Befund lenkt den Blick auf die Rechtsprechung, wo sich neue Tendenzen in stärkerem Maße ankündigen.
Gehrlein_Markus_NZI2021-19Der BGH hat mit dem Urteil vom 06.05.2021 (IX ZR 72/20, NZI 2021, 720 m. Anm. Ganter NZI 2021, 725) einen wichtigen Bereich der Vorsatzanfechtung umgestaltet. Allein aus dem Wissen um die Zahlungsunfähigkeit kann in aller Regel eine Benachteiligungsvorsatz des Schuldners und eine Kenntnis dieses Vorsatzes bei dem Anfechtungsgegner nicht hergeleitet werden. Vielmehr muss hinzukommen, dass der Schuldner im maßgeblichen Zeitpunkt wusste oder jedenfalls billigend in Kauf nahm, seine übrigen Gläubiger auch künftig nicht vollständig befriedigen zu können (Rn. 36 ff.). Eine Kenntnis der fehlenden Schuldendeckungsfähigkeit kann sich aus eigenen Erklärungen des Schuldners, offene Verbindlichkeiten nicht begleichen zu können (Rn. 41), oder aus einem Rückstand mit besonders bedeutsamen Forderungen erschließen (Rn. 42). Der BGH verweist selbst darauf, dass das zusätzliche Merkmal des Wissens um die fehlende Schuldendeckungsfähigkeit im Vergleich zur Vergangenheit nicht generell zu abweichenden Beurteilungen einschlägiger Fälle führen muss (Rn. 36). Gleichwohl wird der Rechtsprechungsschwenk Klarstellungen und Ergänzungen erfordern, etwa zu der Frage, welche Zeit einer der Antragspflicht des § 15a InsO unterliegenden Gesellschaft zur Wiedergewinnung ihrer Zahlungsfähigkeit bleibt. Für Arbeit ist bei allen Beteiligten gesorgt. Die wissenschaftliche Diskussion wird nicht abbrechen.
Neue Fragen wird auch die Einbettung der bislang spezialgesetzlich geregelten (vgl. etwa § 64 GmbHG, § 92 AktG) Zahlungsverbote in § 15b InsO hervorrufen. Der Gesetzgeber hat sich nicht darauf beschränkt, die bisherigen Vorschriften rechtsformneutral nach § 15b InsO zu überführen. Vielmehr wurden, was natürlich das gute Recht des Gesetzgebers ist, inhaltliche Änderungen vorgenommen. Leider haben sich bei der Neufassung vermeidbare Unsicherheiten eingeschlichen, die bei handwerklich sorgfältiger Arbeitsweise vermeidbar gewesen wären. In den Materialien wurde darauf hingewiesen, dass die Zahlung der Sozialversicherungsbeiträge entgegen der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung im Verschleppungszeitraum nicht mehr privilegiert ist (BR-Dr. 619/20, 226). In der Endphase der Beratung wurde § 15b VIII InsO eingefügt, wonach keine Verletzung steuerrechtlicher Zahlungspflichten (§ 69 AO) vorliegt, wenn zwischen dem Eintritt der Zahlungsunfähigkeit nach § 17 InsO oder der Überschuldung nach § 19 InsO und der Entscheidung des Insolvenzgerichts über den Insolvenzantrag Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis nicht oder nicht rechtzeitig erfüllt werden, sofern die Antragspflichtigen ihren Verpflichtungen nach § 15a InsO nachkommen. Damit werden Geschäftsleiter bei rechtzeitiger Antragstellung von der Verpflichtung zur Steuerzahlung nach Insolvenzreife befreit; konsequenterweise haftet ein Geschäftsführer nach § 15b InsO, der gleichwohl Steuerzahlungen leistet. Da für die nur in den Gesetzesmaterialien erwähnten Sozialversicherungsbeiträge keine ausdrückliche Regelung getroffen wurde, ist nun ein Streit entbrannt, ob Geschäftsführer entsprechend der bisherigen Rechtsprechung nach Insolvenzreife Sozialversicherungsbeiträge abführen dürfen, ohne nach § 15b InsO zu haften. Hier sprechen gute Gründe für einen Analogieschluss zu § 15b VIII InsO (Hodgson NZI-Beilage 1/2021, 85 [86]; aA etwa Thole BB 2021, 1347 [1354]). Hoffentlich erhält der II. Zivilsenat bald Gelegenheit, diesen Streitpunkt zu klären.
Die eigentliche Musik spielt in § 15b IV InsO. Die Vorschrift begründet durch § 15b IV 1 InsO einen Erstattungsanspruch für jede einzelne nach Insolvenzreife vorgenommene Zahlung, eröffnet dem Geschäftsleiter aber durch § 15b IV 2 InsO den Gegenbeweis, dass der Gesellschaft tatsächlich ein geringerer Schaden entstanden ist. Obwohl Einwände dieser Art der veröffentlichen Rechtsprechung nicht entnommen werden können, hat der Gesetzgeber mit dieser Regelung Forderungen des Schrifttums aufgegriffen. Man wird abwarten müssen, ob Geschäftsleiter diesen Einwand künftig verstärkt erheben. Geschieht dies, wird der II. Zivilsenat der nicht einfachen Frage der Schadensberechnung nachgehen müssen. Bekanntlich ist ein Verschleppungsschaden nur schwer zu beziffern. Ein Ausweg könnte sein, den Schaden isoliert bezogen auf die jeweilige Zahlung zu ermitteln. Auf die weitere Entwicklung darf man auch in diesem Bereich gespannt sein.

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