Prof. Dr. Georg Crezelius, München
…wittert das Steuerrecht allerorten. Auf steuergesetzlicher Ebene prototypisch ist hier § 8c KStG, der den Verlusthandel unterbinden will, soweit es um die Übertragung kapitalgesellschaftsrechtlicher Beteiligungen geht. Handelt es sich um eine spezielle Missbrauchsregelung, dann stellt sich sofort die methodische Frage, ob daneben der allgemeine Missbrauchstatbestand des § 42 AO anwendbar ist.
Zu dieser Frage hat der I. Senat des BFH mit Urteil v. 17.11.2020 – I R 2/18 (BeckRS 2020, 47528) in grundsätzlicher Weise Stellung genommen. Im Sachverhalt hatte die Klägerin, die sich in existenziellen wirtschaftlichen Schwierigkeiten befand und hohe Verluste erzielte, eine leere Gewinngesellschaft erworben und diese umgehend auf sich verschmolzen, und zwar mit steuerlicher Rückwirkung. Das führte dazu, dass im Rückwirkungszeitraum die negativen Einkünfte der Klägerin mit den erworbenen positiven Einkünften verrechnet wurden. Der heute einschlägige Ausschluss einer derartigen Verlustverrechnung in § 2 IV 3 bis 6 UmwStG war wie im Streitjahr noch nicht in Kraft. Das FA meinte, es handele sich aber um einen Missbrauch nach § 42 AO. Nach Meinung des BFH besteht keine automatische Abschirmwirkung einzel-steuergesetzlicher Umgehungsverhinderungsnormen gegenüber § 42 AO; dies ergebe sich aus dem heutigen § 42 I 2, 3 AO.
Dies hätte man auch anders sehen können, weil die spezielle Missbrauchsregelung letztlich die Missbrauchskonstellationen umschreibt und tatbestandlich festlegt. Allerdings schränkt der BFH seine Auffassung dann wieder ein, wenn klargestellt wird, dass bei einem Rückgriff auf § 42 AO gleichwohl die gesetzgeberischen Wirkungen berücksichtigt werden müssen, die der einzelsteuergesetzlichen Umgehungsverhinderungsnorm zugrunde liegen. Das ist letztlich eine gleichsam mittlere Lösung, die zugunsten der Steuerpflichtigen berücksichtigt, dass eine spezielle Missbrauchsverhinderungsnorm nicht einschlägig ist/war.
Der BFH kommt dann zu einer für die Praxis wichtigen, neuen und bedeutsamen Aussage: Die Verschmelzung einer Gewinngesellschaft auf eine Verlustgesellschaft ist kein Missbrauch! Dem liegt die Auffassung zugrunde, dass es um die Nutzung eigener Verlustvorträge der Klägerin ging und dies von den Zielsetzungen des Leistungsfähigkeitsprinzips gedeckt ist. Daraus wird man die allgemeine Folgerung ziehen können, dass auch in Zukunft die Nutzung selbst erwirtschafteter Verluste mit „hinzuerworbenen Gewinnen“ möglich ist, weil es eben nicht – wie nach § 8c KStG – um einen Verlusthandel geht. Das ist eine für die Praxis enorm bedeutsame Aussage, die gerade in Sanierungssituationen hilfreich sein kann. Man wird abwarten müssen, ob der Steuergesetzgeber angesichts dieser neuen Entwicklung Änderungsbedarf bei § 42 AO sieht.