AKTUELL 23/2023
Sozialrecht
Zu hohe Kassenzuzahlungen für Heimbewohnerin
Weil sie die Höhe der Zuzahlungen bei ihrer Krankenkasse nicht akzeptieren wollte, ist eine Rentnerin bis vor das BVerfG gezogen. Die Verfassungsbeschwerde hatte Erfolg. Die rechtlichen Erwägungen zur Ermittlung der Belastungsgrenze entbehrten nach Ansicht des BVerfG (22.9.2023 – 1 BvR 422/23, BeckRS 2023, 30229) „jeder nachvollziehbaren Grundlage“.
Die 1938 geborene Frau wohnt in einem Pflegeheim. Von ihrer Altersrente wird das meiste für den Eigenanteil an den Heimkosten verbraucht. Den Rest der Heimkosten übernimmt ihr Sozialhilfeträger. Bei ihrer Krankenkasse beantragte die Rentnerin eine Begrenzung ihrer Zuzahlungen, die gesetzlich Versicherte für manche Leistungen erbringen müssen und die in der Regel auf eine Belastung von 2 % des jährlichen Bruttoeinkommens begrenzt sind. Für Bezieher bestimmter Sozialleistungen wird die Belastungsgrenze gemäß § 62 II 5 SGB V nach der Regelbedarfsstufe 1 des SGB XII bestimmt, sodass ihnen geringere Zuzahlungen zugemutet werden.
Die Krankenkasse und das Sozialgericht hielten diese Ausnahmevorschrift nicht für anwendbar und setzten stattdessen eine anhand der Renteneinkünfte ermittelte Belastungsgrenze von knapp 132 EUR fest. Das SG argumentierte, dass die Versicherte zwar Hilfe zur Pflege nach § 61 SGB XII beziehe, es sich dabei aber nicht um eine Kostenübernahme im Sinn der Ausnahmevorschrift des § 62 II 5 Nr. 2 SGB V handele. Diese fordere eine Kostenübernahme für Unterkunft und Verpflegung nach den Regeln der Hilfe zum Lebensunterhalt gemäß §§ 27 ff. SGB XII, die unstreitig nicht vorliegt. Die Frau gab nicht auf und zog vor das Bundesverfassungsgericht – mit Erfolg.
Laut BVerfG verletzt der Gerichtsbescheid des SG das Willkürverbot nach Art. 3 I GG. Die Annahme, eine Kostenübernahme für die Unterbringung in einem Heim iSd § 62 II 5 Nr. 2 SGB V setze die Kostenübernahme für Unterkunft und Verpflegung nach §§ 27 ff. SGB XII voraus, entbehre „jeder nachvollziehbaren Grundlage“. Eine derartige Auslegung der Vorschrift sei weder mit ihrem eindeutigen Wortlaut noch mit ihrer Systematik vereinbar. Die Regelung verlange lediglich die Kostentragung der Unterbringung des Versicherten in einem Heim oder einer andere Einrichtung durch den Sozialhilfeträger und gerade keine Leistungen für Unterkunft und Verpflegung nach §§ 27 ff. SGB XII. § 62 II 5 Nr. 2 SGB V nur dann anzuwenden, wenn die im Heim untergebrachten Versicherten auch Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII bezögen, hätte zur Folge, dass der Regelung keine eigenständige Bedeutung zukommen würde. Denn ein Versicherter, der Hilfen zum Lebensunterhalt nach §§ 27 ff. SGB XII erhält, werde bereits von § 62 II 5 Nr. 1 SGB V erfasst. Nach der Gesetzessystematik stelle sich § 62 II 5 Nr. 2 SGB V vielmehr als Sonderregelung gerade für Versicherte dar, die nicht von Nr. 1 der Regelung erfasst werden, weil sie keine Leistungen nach dem 3. und 4. Kapitel des SGB XII beziehen, gleichwohl jedoch wegen der Heimunterbringung bedürftig sind und deshalb Anspruch auf Leistungen des Sozialhilfeträgers wie Hilfe zur Pflege haben.
Die vom SG vorgenommene – nicht weiter begründete – Einengung der Tatbestandsvoraussetzungen widerspreche auch offensichtlich der gesetzgeberischen Konzeption, neben der Personengruppe der Bezieher von Hilfe zum Lebensunterhalt oder Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem SGB XII einen eigenständigen Ausnahmetatbestand für die gleichfalls einkommensschwache Personengruppe der Bewohner insbesondere von Alten- und Pflegeheimen zu schaffen.
Steuerrecht
Kindergeld für Stiefkind nach Auflösung einer Lebenspartnerschaft
Gelten Kinder immer noch als Stiefkinder, wenn sie nach Auflösung einer Lebenspartnerschaft später nach einer Unterbrechung wieder im Haushalt der Stiefmutter leben? Das FG Baden-Württemberg hat diese Frage mit Blick auf die Weiterzahlung von Kindergeld bejaht – und die Revision zugelassen.
Zwei Frauen hatten je zwei Kinder in eine Lebenspartnerschaft mitgebracht. Nachdem sich beide getrennt hatten und die Expartnerin mit ihren Abkömmlingen ausgezogen war, waren die Kinder nach einiger Zeit wieder zu ihrer Stiefmutter zurückgezogen. Die Familienkasse weigerte sich, Kindergeld für eins der Kinder zu zahlen, das zunächst bei dessen Vater gelebt hatte. Das Stiefkindschaftsverhältnis sei „aufgelöst“ worden, so die Begründung der Behörde. Das Kind könne nach § 63 I 1 Nr. 2 EStG (Kindergeld für in den Haushalt aufgenommene Kinder der Partnerin) nicht mehr berücksichtigt werden, da es nach der Scheidung nicht im Haushalt der Stiefmutter verblieben sei, sondern erst bei der leiblichen Mutter und danach beim Vater gelebt habe.
Der 13. Senat des Finanzgerichts Baden-Württemberg (Gerichtsbescheid v. 4.8. 2023 – 13 K 254/23, BeckRS 2023, 27621) trat der Auffassung der Familienkasse entgegen. Die Stiefmutterschaft erlösche nicht mit Auflösung der Lebenspartnerschaft. Denn § 11 II LPartG sei hier dahingehend auszulegen, dass zu den Kindern des Lebenspartners auch die Kinder des geschiedenen Lebenspartners zählen, und zwar unabhängig davon, ob diese „durchgehend“ im Haushalt des Stiefelternteils verbleiben. Für diese Auslegung spreche § 1590 BGB (Schwägerschaft). Die Klägerin sei mit ihren Stiefkindern im ersten Grade verschwägert. Nach dem klaren Wortlaut des § 1590 II BGB dauere die Schwägerschaft fort, auch wenn die Ehe, durch die sie begründet wurde, aufgelöst ist. Das „Stiefkindschaftsverhältnis“ sei mithin nicht erloschen.
Dass Stiefkinder im Rahmen des § 63 I Nr. 2 EStG unabhängig vom Fortbestehen der Ehe berücksichtigungsfähig bleiben, erscheine auch im Lichte des Art. 6 I GG zum Schutz der Familie als geboten“, hat das FG betont. Dementsprechend seien Stiefkinder leiblichen Kindern rechtlich – auch im Steuerrecht – weitgehend gleichgestellt. Eine Differenzierung dahingehend, ob das Stiefkind nach Auflösung der Ehe bzw. Lebenspartnerschaft im Haushalt des Stiefelternteils „durchgehend verbleibe“ oder zwischenzeitlich ausgezogen sei – wovon der 14. Senat des FG Baden-Württemberg (BeckRS 2000, 30812929) in einem obiter dictum ausgegangen war – ist dem 13. Senat zufolge aus Gründen des Kindeswohls nicht angebracht. Dies werde vor allem dann deutlich, wenn die Ehe durch den Tod des leiblichen Elternteils aufgelöst werde und das Stiefkind vorübergehend bei Verwandten untergebracht werde.
Der Senat hat die Revision zugelassen, da die Frage bislang in der höchstrichterlichen Rechtsprechung noch ungeklärt ist.