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NZA Nachrichten

BAG wartet auf EuGH-Entscheidung zu Rechtsfolgen fehlerhafter Massenentlassungsanzeigen

BAG
Das vom Bun­des­ar­beits­ge­richt ent­wi­ckel­te Sank­ti­ons­sys­tem für Feh­ler im Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge­ver­fah­ren gemäß § 17 Abs. 1 KschG steht mög­li­cher­wei­se nicht im Ein­klang mit der Sys­te­ma­tik des Mas­sen­ent­las­sungs­schut­zes, wie er durch die Mas­sen­ent­las­sungs­richt­li­nie (MERL) ver­mit­telt wird, und könn­te darum un­ver­hält­nis­mä­ßig sein. Das BAG hat des­halb einen Rechts­streit aus­ge­setzt.

Streit um Feststellungs-Zeitpunkt der Beschäftigtenzahl bei Entlassung

Der Kläger war bei einem Unternehmen tätig, das bis zu 25 Mitarbeitende beschäftigte. Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens kündigte der beklagte Insolvenzverwalter innerhalb von 30 Tagen mindestens zehn Arbeitnehmenden, darunter dem Kläger, ohne zuvor eine Massenentlassungsanzeige nach § 17 Abs. 1 KSchG erstattet zu haben. Dieser habe es seiner Ansicht nach nicht bedurft. § 17 Abs. 1 Nr. 1 KSchG schreibe eine Anzeigepflicht bei "Betrieben mit in der Regel mehr als 20" Arbeitnehmenden vor. Das Tatbestandsmerkmal "in der Regel" stelle auf den Zeitpunkt der Entlassung und damit auf einen Stichtag ab. Zum Stichtag seien bei der Schuldnerin weniger als 21 Arbeitnehmende beschäftigt gewesen. Das LAG hat die Kündigung aufgrund der fehlenden Massenentlassungsanzeige für unwirksam gehalten und der Kündigungsschutzklage stattgegeben. Das BAG hat das Verfahren nun ausgesetzt um auf Klärung offener Rechtsfragen durch den EuGH zu warten.

Entscheidend: Arbeitnehmeranzahl bei "gewöhnlichem Ablauf"

In seinem Beschluss stellte das BAG zunächst klar, dass das Tatbestandsmerkmal "in der Regel" weder eine Stichtagsregelung enthält noch eine Durchschnittsbetrachtung. Es stelle vielmehr auf die Anzahl der beschäftigten Arbeitnehmenden ab, die für den gewöhnlichen Ablauf des betreffenden Betriebs kennzeichnend ist. Hierzu bedürfe es eines Rückblicks auf den bisherigen Personalbestand und gegebenenfalls – sofern keine Betriebsstilllegung erfolgt – einer Einschätzung der zukünftigen Entwicklung. Zeiten eines außergewöhnlich hohen oder niedrigen Geschäftsgangs seien nicht zu berücksichtigen. Das sei durch die Rechtsprechung des EuGH bereits geklärt. Die nach § 17 Abs. 1 KSchG maßgebliche Betriebsgröße sei im Zeitpunkt der vom Beklagten erklärten Kündigungen noch erreicht gewesen. Dieser hätte daher eine Massenentlassungsanzeige erstatten müssen.

Führt Verstoß gegen § 17 Abs. 1 KSchG zur Unwirksamkeit der Kündigung?

Hat ein Arbeitgeber die Betriebsgröße falsch beurteilt und deshalb keine Massenentlassungsanzeige erstattet, sei jedoch derzeit unklar, ob dies – wie vom BAG in ständiger Rechtsprechung seit 2012 angenommen – weiterhin zur Unwirksamkeit der Kündigung führt. Das BAG sieht das von ihm entwickelte Sanktionssystem möglicherweise nicht im Einklang mit der Systematik des Massenentlassungsschutzes, wie er durch die MERL vermittelt wird. Es könne darum unverhältnismäßig sein. Mit Blick auf den Schlussantrag zu einem beim EuGH bereits anhängigen Vorabentscheidungsersuchen (C-134/22) sei der vorliegende Rechtsstreit auszusetzen, um auf der rechtlichen Grundlage der zu erwartenden Entscheidung die Sanktionen bei Verstößen des Arbeitgebers gegen seine Verpflichtungen aus § 17 Abs. 13 KSchG bestimmen zu können.

zu BAG, Beschluss vom 11.05.2023 - 6 AZR 157/22 (A)

Aus der Datenbank beck-online

Generalanwalt beim EuGH (Priit Pikamäe), Schlussantrag vom 30.03.2023, BeckRS 2023, 5798

LAG Hamburg, Zeitpunkt der Feststellung von Beschäftigtenzahl bei Entlassung, BeckRS 2022, 10302 (Vorinstanz)

Moll, Betriebsbegriff im Massenentlassungsrecht und Rechtsfolgen fehlerhafter Massenentlassungsanzeigen, RdA 2021, 49

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