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Massenentlassungsanzeigen: Wie das BAG in Luxemburg doppelt abblitzte

EuGH
Das BAG woll­te Un­ter­neh­men bei Mas­sen­ent­las­sun­gen etwas Er­leich­te­rung von der Brüs­se­ler Bü­ro­kra­tie ver­schaf­fen, doch der EuGH grätscht da­zwi­schen. Kein Wun­der, denn ge­schickt an­ge­stellt hat man dies in Er­furt nicht, meint Ul­rich Kort­mann.

Das Verfahren bei Massenentlassungen verlangt dem Arbeitgeber viel ab, vielleicht zu viel. Es ist kompliziert und fehlerträchtig. Die Sanktion – Nichtigkeit der Kündigungen – ist, gerade bei mehr oder weniger belanglosen Fehlern, unverhältnismäßig. Dies behaupten nicht nur notorische Arbeitgebervertreterinnen und -vertreter, sondern selbst aktive und ehemalige Richterinnen und Richter des BAG.

In der Fachwelt war daher ein gewisses Aufatmen zu vermerken, als gleich zwei Senate des BAG sich anschickten, das bisherige starre Sanktionssystem aufzubrechen. Dieses Unternehmen hat seinen vorläufigen Schlusspunkt jedoch mit zwei Urteilen des EuGH vom Donnerstag in den Rechtssachen Tomann und Sewel gefunden (Urteile vom 30.10.2025 – C-134/24 u. C-402/24). Der EuGH pocht dabei weiterhin auf das bisherige System und lehnt die Ideen beider Senate, wie man Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen vereinbaren könne, ab.

Anzeige soll Vermittlung der Gekündigten beschleunigen

Doch der Reihe nach: Ausgangspunkt der Vorlage des BAG in der Sache Tomann war ein Kündigungsschutzverfahren, das vor dem Sechsten Senat anhängig ist. Ein Insolvenzverwalter hatte im Oktober 2020 Massenentlassungen vorgenommen, ohne eine Massenentlassungsanzeige nach § 17 Abs. 1 KSchG zu erstatten.

Die §§ 17 ff. KSchG sehen bei Massenentlassungen ein mehrstufiges Verfahren vor. Dieses besteht – stark vereinfacht – darin, dass der Arbeitgeber den Betriebsrat über die Einzelheiten der geplanten Massenentlassung zu unterrichten und mit diesem zu beraten hat, ob und wie Entlassungen vermieden werden können (Konsultationsverfahren). Danach darf der Arbeitgeber die Entlassungen aussprechen, muss vorher aber der zuständigen Agentur für Arbeit die Entlassungen anzeigen, wobei er bestimmte "Muss-Angaben" vornehmen muss (Anzeigeverfahren).

Während das Konsultationsverfahren ausdrücklich die Vermeidung von Entlassungen bezweckt, soll das Anzeigeverfahren die Kündigungen nicht verhindern, sondern der Agentur für Arbeit nur die Möglichkeit geben, ihre Vermittlungsbemühungen für die betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vorzubereiten. Um der Agentur für Arbeit die notwendige Zeit einzuräumen, sieht § 18 KSchG flankierend eine Entlassungssperre vor. Kündigungen werden erst nach Ablauf eines Monats nach Eingang der Anzeige bei der Agentur für Arbeit wirksam, wobei die Agentur diese Frist auf bis zu zwei Monate verlängern kann.

BAG zweifelte an eigener Rechtsprechung

Weder das Gesetz noch die zugrundeliegende Massenentlassungsrichtlinie 98/59/EG vom 20.7.1998 (MERL) sehen bei Verstößen gegen die Anzeigepflicht eine ausdrückliche Sanktion vor. Nach bisheriger Rechtsprechung des BAG führt eine fehlende oder unwirksame Massenentlassungsanzeige zur Nichtigkeit der Kündigung. Legt man diese Rechtsprechung zugrunde, wäre die Entscheidung im Ausgangsfall glasklar: Die Kündigungen wären mangels Anzeige unwirksam. Diese "Unwirksamkeitsdoktrin" stand aber schon länger in der Kritik, da nicht nur eine gänzlich fehlende Anzeige, sondern auch größere oder kleinere Unachtsamkeiten im fehlerträchtig ausgestalteten Konsultations- oder Anzeigeverfahren zur Nichtigkeit der Kündigungen führen konnten.

Diese Kritik fand beim BAG schließlich ein offenes Ohr: Der Sechste Senat bezweifelte im Ausgangsverfahren, ob die Nichtigkeit der Kündigungen eine angemessene Reaktion auf Fehler im Anzeigeverfahren sei, da eine so einschneidende Fehlerfolge der Gesetzgeber selbst bestimmen müsse. Wegen der Abweichung zur bisherigen Rechtsprechung stellte der Sechste Senat zunächst eine Divergenzanfrage gemäß § 45 Abs. 3 ArbGG an den Zweiten Senat des BAG, ob dieser an seiner Rechtsprechung zur Nichtigkeitsfolge festhalten wolle. Der wiederum war dem nicht abgeneigt. Statt die Divergenzanfrage zu beantworten, spielte er den Ball jedoch weiter nach Luxemburg.

Zwei Vorlagen von zwei Senaten – und ein kleiner Seitenhieb

In seinem Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH wollte der Zweite Senat des BAG unter anderem wissen, ob eine fehlende Massenentlassungsanzeige geheilt werden könne, wenn diese später nachgeholt werde und ob die Kündigungen in diesem Fall erst mit Ablauf der Entlassungssperre wirksam würden. Darüber hinaus fragte der Senat, ob es für den Lauf der Entlassungssperre darauf ankomme, ob die Anzeige auch sämtliche "Muss"-Angaben enthalte. Schließlich möchte der vorlegende Senat wissen, ob es mit der Richtlinie vereinbar sei, wenn die Agentur für Arbeit verbindlich entscheide, ob die Anzeige wirksam sei, ohne dass die Arbeitsgerichte dies in Frage stellen können.

In seinem Vorlagebeschluss skizziert der Zweite Senat zugleich einen Lösungsvorschlag: Mit Sinn und Zweck des Anzeigeverfahrens sei es vereinbar, wenn der Arbeitgeber die zunächst unterbliebene oder fehlerhafte Anzeige später noch nachholen könne. Anknüpfen könne man an die Entlassungssperre. Die Kündigungen seien nicht "unrettbar" nichtig, würden aber erst wirksam, wenn eine ordnungsgemäße Anzeige nachgeholt werde, und die dann beginnende Entlassungssperre abgelaufen sei. Dies würde der Agentur für Arbeit ausreichend Zeit geben, sich auf die Massenentlassungen vorzubereiten. Zugleich sei sichergestellt, dass der Verstoß gegen die Anzeigepflicht nicht folgenlos bleibe.

Kaum drei Monate später nahm der Sechste Senat einen ähnlich gelagerten Fall – die Sache Sewel – zum Anlass, diesmal ohne Umweg über die Kolleginnen und Kollegen ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH zu stellen. Auch seine Vorlagefragen verknüpft der Sechste Senat mit eigenen Vorstellungen, wie ein angemessenes Sanktionsregime bei Verletzungen der Anzeigepflicht aussehen könnte. Im Unterschied zum Zweiten Senat brachten die Richterinnen und Richter eine zeitlich befristete Hemmung des Ablaufs der Kündigungsfrist ins Spiel. Anknüpfend an § 18 Abs. 2 KSchG solle sich bei fehlerhafter Anzeige die Kündigungsfrist automatisch um einen Monat, bei gänzlich fehlender Anzeige um zwei Monate verlängern. Einen Seitenhieb auf den Zweiten Senat konnten sie sich zudem nicht verkneifen: Dessen Vorlage halte man für unzulässig, da vorlageberechtigt nach Art. 267 Abs. 2 AEUV nur dasjenige Gericht sei, bei dem der Rechtsstreit anhängig sei. Dies sei im dortigen Ausgangsverfahren weiterhin der Sechste Senat.

EuGH wischt Konzepte des BAG vom Tisch

Mit den am Donnerstag ergangenen Urteilen hat der EuGH über beide Vorlagen entscheiden. Das Ergebnis ist ernüchternd:

Die Vorlage des Zweiten Senats (Tomann) hält der EuGH zwar für zulässig. Ein Nachholen der Anzeige nach Ausspruch der Kündigung sei jedoch nicht möglich. Zur Begründung verweist der Gerichtshof zunächst auf den Wortlaut von Art. 3 Abs. 1 MERL, wonach der Arbeitgeber "beabsichtigte" Massenentlassungen anzeige müsse, was impliziere, dass die Entlassungen noch nicht erfolgt seien. Zudem betont er, dass die MERL nicht ohne Grund ein zweistufiges, aufeinander aufbauendes und verzahntes Verfahren vorsehe, welches vor Ausspruch der Kündigungen abgeschlossen sein müsse. Die Einhaltung dieser vorgesehenen Abfolge diene auch der Rechtssicherheit der betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die (zumindest theoretisch) unmittelbar nach Erhalt der Kündigung prüfen können müssen, ob das gesetzlich vorgegebene Verfahren eingehalten wurde. Die weiteren Vorlagefragen, die darauf abzielten, ob ggf. auch eine unvollständige oder fehlerhafte Anzeige reichen könnte und ob etwaige Fehler durch einen Bescheid der Agentur für Arbeit geheilt werden könnten, hält der EuGH mangels Verfahrensrelevanz für unzulässig.

Kaum besser ergeht es der Vorlage des Sechsten Senats (Sewel): Dessen Frage bezüglich einer möglichen Heilung von Fehlern bei der Anzeige für den Fall, dass die Agentur für Arbeit diese nicht beanstandet, wird immerhin beantwortet, wenn auch nicht im erhofften Sinne. Eine unvollständige Anzeige, so der EuGH, könne den von der MERL verfolgten Zweck nicht erfüllen. Daran ändere weder ein Schweigen der Agentur für Arbeit etwas, noch eine ausdrückliche Bestätigung, dass man sich hinreichend informiert fühle. Zur Begründung führt er an: Die Zeit, die die Agentur für Arbeit aufwenden müsse, um die fehlenden Informationen nachträglich zu beschaffen, ginge zu Lasten der Zeit, die ihr für die Vorbereitung ihrer Vermittlungsbemühungen zur Verfügung stehe. Zu den Folgen einer unterbliebenen oder fehlerhaften Anzeige wiederholt der EuGH seine Ausführungen im Tomann-Urteil: Die Anzeige muss vor Ausspruch der Kündigungen vorliegen und kann später nicht nachgeholt werden. Das Konzept des Sechsten Senats einer automatischen Verlängerung der Kündigungsfrist würdigt der EuGH mit keinem Wort.

Das BAG hilft den Unternehmen so nicht

Was bleibt als Erkenntnis? Das BAG hat sich nicht mit Ruhm bekleckert. Dies gilt nicht nur für das öffentlich ausgetragene Scharmützel, sondern auch für die Formulierung der Vorlagefragen: Wenn man Fälle nach Luxemburg vorlegt, müssen diese auch geeignet sein und zu den Vorlagefragen passen. Der EuGH weist zurecht daraufhin, dass seine Aufgabe darin besteht, entscheidungserhebliche Rechtsfragen zu beantworten, nicht aber Rechtsgutachten für von den nationalen Gerichten vorgelegte Konzepte zu erstellen.

Für Unternehmen ändert sich damit nichts. Die zarte Hoffnung, dass mit Erfurter Hilfe die bürokratischen Zumutungen aus Brüssel wenigsten etwas abgemildert werden, war vergebens. Zynisch könnte man anmerken, dass es aus Unternehmenssicht an anderer Stelle viel Dringenderes zu tun gäbe (Datenschutz, Entgelttransparenz und Lieferketten), da fallen die Pflichten bei Massenentlassungen kaum mehr ins Gewicht.

Ulrich Kortmann ist Fachanwalt für Arbeitsrecht und Partner bei michels.pmks in Köln.

 

    Aus der Datenbank beck-online

    Brune/Schmitz-Scholemann, Massenentlassungsanzeige: In Erfurt heißer gegessen als in Luxemburg gekocht?, NZA 2024, 1552

    Bayreuther, Fehlerfolgen im Massenentlassungsrecht – Ein Zwischenruf, NZA 2024, 813

    Spelge, Massenentlassung zwischen BAG, BVerfG und EuGH, NZA-Beilage 2021, 34

    BAG, Massenentlassungsanzeigeverfahren – Betriebsbedingte Kündigung nach Insolvenzeröffnung und Vorlage an EuGH, NZA 2024, 825

    BAG, AP KSchG 1969 § 17 Nr. 72, AP KSchG 1969 § 17 Nr. 72

    BAG, Unwirksame Kündigung bei fehlerhafter Massenentlassungsanzeige, NZA 2013, 845

    BAG, Sonderliquidationsverfahren für öffentliche Unternehmen nach griechischem Recht – Konsultationsverfahren, NJOZ 2013, 1232

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