EuGH-Generalanwalt Dean Spielmann hat dem polnischen Verfassungsgerichtshof eine "beispiellose Rebellion" vorgeworfen, weil dieser in seinen Urteilen vom 14. Juli und 7. Oktober 2021 das polnische Verfassungsrecht für vorrangig gegenüber Unionsrecht befunden hatte. Dies schade dem Vorrang, der Autonomie und der Wirksamkeit des Unionsrechts, heißt es in den Schlussanträgen Spielmanns zu einer Klage der Kommission gegen Polen, die am Dienstag veröffentlicht wurden (C-448/23).
Mit Beschluss vom 8. April 2020 hatte der EuGH Polen verpflichtet, nationale Vorschriften zu den Zuständigkeiten der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts unverzüglich nicht mehr anzuwenden. Hintergrund war eine neue Disziplinarordnung für die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) und der ordentlichen Gerichtsbarkeit, die in Polen 2017 unter der national-autoritären PiS-Regierung erlassen worden war. Damit war unter anderem eine neue Kammer am Obersten Gericht eingerichtet worden, die für Disziplinarsachen gegen eigene Richterinnen und Richter und im zweiten Rechtszug für Disziplinarsachen gegen Richterinnen und Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit zuständig war. Die Regelung war Teil eines großen - und hoch umstrittenen - Umbaus des polnischen Justizapparats.
Mit Urteil vom 14. Juli 2021 erklärte der polnische Verfassungsgerichtshof daraufhin, dass die Anordnungen des EuGH gegen den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung und die polnische Verfassungsidentität verstießen. Die polnische Verfassung als oberste Rechtsquelle in Polen müsse hier Vorrang genießen. Der EuGH erlege Polen stattdessen Ultra-vires-Verpflichtungen auf. Ähnlich hielt es das Verfassungsgericht in seinem Urteil vom 7. Oktober 2021, in dem es feststellte, dass einige europäische Normen, unter anderem Art. 19 EUV, der dem EuGH die Aufsicht über die Einhaltung des europäischen Rechts überträgt, in dessen Auslegung nicht mit der polnischen Verfassung vereinbar seien.
"Offenkundiger Verstoß gegen Grundprinzipien der Union"
Die Kommission reagierte auf diesen Affront, mit dem das polnische Verfassungsgericht de facto die Geltung des Unionsrechts für Polen in Frage stellte, mit einer Vertragsverletzungsklage beim EuGH - der Streit der Gerichte ging damit auf eine neue Ebene.
Die beiden Urteile des Verfassungsgerichtshofs stellten einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz in Bereichen, die durch Unionsrecht geregelt seien, in Frage, rügte die Kommission. Zudem beeinträchtige sie den Vorrang, die Autonomie, die Wirksamkeit und die einheitliche Anwendung des Unionsrechts sowie die Bindungswirkung der Urteile des EuGH. Außerdem hielt man in Brüssel die Ernennung von drei Richtern und der Präsidentin des polnischen Verfassungsgerichtshofs für fehlerhaft, womit dieser nicht hinreichend unabhängig und unparteiisch agiert habe.
Diesen Bedenken schloss sich Generalanwalt Spielmann nun im Wesentlichen an. Indem der polnische Verfassungsgerichtshof auf unionsrechtswidrigem nationalen Recht beharre, setze er sich in Widerspruch zur Rechtsprechung des EuGH. Die Urteile stellten, so heißt es im deutschen Originalwortlaut der Schlussanträge, eine "beispiellose Rebellion" und "einen offenkundigen, ich würde sogar sagen einen der direktesten, Verstöße gegen die Grundprinzipien der Rechtsordnung der Union (dar)".
Generalanwalt: Polnischer Verfassungsgerichtshof nicht unabhängig
Dies könne keinesfalls mit innerstaatlichen Bestimmungen, auch nicht mit vermeintlich entgegenstehendem Verfassungsrecht, gerechtfertigt werden. Das Gericht könne sich dabei auch nicht auf die Verfassungsidentität seines Staates im Rahmen einer Ultra-vires-Kontrolle berufen. Auch das deutsche BVerfG sieht in ständiger Rechtsprechung die Ultra-vires-Kontrolle als direkten Ausfluss der unabänderlichen Verfassungsidentität des Grundgesetzes an. In seinem berühmten PSPP-Urteil hatte es sich daher selbst in einen Konflikt mit dem EuGH begeben, was ebenfalls ein Vertragsverletzungsverfahren zur Folge hatte, das jedoch inzwischen eingestellt wurde.
Die Klausel über die nationale Identität in Art. 4 Abs. 2 EUV schränke nach Auslegung des EuGH nicht den Grundsatz des Vorrangs von Unionsrecht ein, betont der Generalanwalt. Vor allem erlaube er es nicht, mit Art. 2 EUV und den darin verankerten Grundwerten zu brechen. Wie ein Konflikt zwischen Unionsrecht und der nationalen Verfassungsidentität eines Mitgliedstaats zu entscheiden sei, beurteile einzig und allein der EuGH.
Spielmann schloss sich auch den Bedenken der Kommission im Hinblick auf die personelle Besetzung des Verfassungsgerichtshofs an. Die korrekte Besetzung gehöre zu den grundlegenden Erfordernissen eines unabhängigen und unparteiischen Gerichts, schreibt der Generalanwalt. Bei der Ernennung von Richterinnen und Richtern müsse jeder vernünftige Zweifel an der Unempfänglichkeit des Gerichts für äußere Beeinflussung ausgeräumt werden. Die Ernennung der drei Richter und der Präsidentin sei durch mehrere Unregelmäßigkeiten gekennzeichnet gewesen, "die als offenkundig und schwerwiegend eingestuft werden können". Der polnische Verfassungsgerichtshof könne somit nicht als ein unabhängiges, unparteiisches und durch Gesetz errichtetes Gericht im Sinne des Unionsrechts eingestuft werden (Schlussanträge vom 11.03.2025 - C-448/23).
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