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NVwZ Nachrichten

Verfassungsbeschwerde nach rechtswidriger Leibesvisitation erfolgreich

Von BVerfG | Jun 16, 2023
Das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt hat einem Straf­ge­fan­ge­nen Recht ge­ge­ben, dem eine Geld­ent­schä­di­gung nach einer rechts­wid­ri­gen kör­per­li­chen Durch­su­chung ver­sagt wor­den war. Das Land­ge­richt, das sich auf man­geln­des Ver­schul­den ge­stützt hatte, hätte mit Blick auf EGMR-Recht­spre­chung eine men­schen­rechts­freund­li­che Aus­le­gung der Amts­haf­tung sowie eine An­wen­dung des all­ge­mei­nen Auf­op­fe­rungs­an­spruchs prü­fen müs­sen.

Strafgefangener begehrt Entschädigung nach rechtswidriger Leibesvisitation

Der Beschwerdeführer verbüßt in einer Justizvollzugsanstalt in Bayern eine lebenslange Freiheitsstrafe. Nach einem Familienbesuch wurde er körperlich durchsucht. Er musste sich dazu vollständig entkleiden, die JVA-Bediensteten kontrollierten die Achselhöhlen, den Mund und die Fußsohlen. Anschließend inspizierten sie den Intimbereich des Beschwerdeführers. Dieser wandte sich gegen die Durchsuchung mit einem Antrag auf gerichtliche Entscheidung, der vor dem LG und dem OLG ohne Erfolg blieb. Der anschließenden Verfassungsbeschwerde gab das BVerfG wegen Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Beschwerdeführers statt. Daraufhin stellte das LG die Rechtswidrigkeit der Durchsuchung fest. Die anschließende Klage des Beschwerdeführers auf eine Entschädigung in Höhe von 500 Euro wies das LG ab, da eine schuldhafte Amtspflichtverletzung der JVA-Bediensteten nicht nachgewiesen sei. Zwar habe der EGMR in einer vergleichbaren Konstellation eine Geldentschädigung nach Art. 41 EMRK zugebilligt, diese – allein vom EGMR auszusprechende Entschädigung – komme aber erst in Betracht, wenn das innerstaatliche Recht nur eine unvollkommene Entschädigung für die Folgen einer Konventionsverletzung gewähre.

BVerfG: Bedeutung von EMRK und EGMR-Rechtsprechung für einfaches Recht verkannt

Die Verfassungsbeschwerde hatte Erfolg. Das BVerfG hat das LG-Urteil aufgehoben und die Sache zurückverwiesen. Das Urteil verletze den Beschwerdeführer in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG). Das LG habe eine Entschädigung für den schwerwiegenden Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht unter Verweis auf ein fehlendes Verschulden der handelnden Amtsträger verneint, ohne eine konventionsfreundliche Auslegung des § 839 BGB i. V. m. Art. 34 GG oder die Anwendung weiterer staatshaftungsrechtlicher Institute zu prüfen. Damit habe es den Einfluss der EMRK und der EGMR-Rechtsprechung auf die Anwendung des einfachen Rechts verkannt. Das LG hätte sich näher mit dem EGMR-Urteil in der Sache Roth versus Germany (NJW 2022, 35) auseinandersetzen müssen, das wegen mehrerer rechtswidriger körperlicher Durchsuchungen eine Geldentschädigung von insgesamt 12.000 Euro zugebilligt habe, so das BVerfG. Es hätte klären müssen, inwieweit die dortigen Vorgaben des EGMR auf den hiesigen Fall übertragen werden könnten. Es habe verkannt, dass die Fachgerichte die EMRK-Gewährleistungen beachten und in die nationale Rechtsordnung einpassen müssen. Ihre Aufgabe bestehe gerade darin, der EMRK und der EGMR-Rechtsprechung durch eine konventionsfreundliche Auslegung des nationalen Rechts auf eine Weise Rechnung zu tragen, die Konventionsverletzungen und entsprechende Entschädigungsansprüche gegen die Bundesrepublik Deutschland vermeide.

EGMR: Regelmäßig Geldentschädigung bei Verletzungen von Art. 3 EMRK

Laut EGMR sei bei Verletzungen von Art. 3 EMRK in der Regel eine Entschädigung in Geld zu gewähren. Die bloße Feststellung der Verletzung genüge nur in Ausnahmefällen zur Genugtuung, insbesondere bei weniger gravierenden Verstößen oder bloßen Verfahrensfehlern. Ferner müsse im nationalen Recht eine praktisch und rechtlich wirksame Möglichkeit zur Wiedergutmachung der Konventionsverletzung bestehen. Der EGMR unterstreicht laut BVerfG, dass die Entschädigung potentiell leerlaufe, wenn sie daran gekoppelt werde, dass der Anspruchsteller ein Verschulden der handelnden Stellen beweisen kann ("prove fault"). Bereits zuvor habe der EGMR in mehreren Entscheidungen darauf hingewiesen, dass eine verschuldensabhängige Staatshaftung ("conditional on the establishment of fault") in Konstellationen, in denen regelmäßig ein Entschädigungsanspruch bestehe, den Anforderungen der Konvention nicht gerecht werde. 

LG hätte menschenrechtsfreundliche Auslegung und verschuldensunabhängige Institute prüfen müssen

Das BVerfG fährt fort, dass die konventionsfreundliche Auslegung zwar ihre Grenze dort finde, wo die Beachtung der EGMR-Entscheidung gegen eindeutig entgegenstehendes Gesetzesrecht verstoße. Das LG hätte aber prüfen müssen, ob und inwieweit den entsprechenden Vorgaben durch Auslegung, etwa auch durch teleologische Reduktion Rechnung getragen werden könnte. Es hätte auch die Anwendung weiterer staatshaftungsrechtlicher Institute jenseits des verschuldensabhängigen Amtshaftungsanspruchs in Erwägung ziehen müssen. So werde im Schrifttum etwa vermehrt die Anwendung des allgemeinen Aufopferungsanspruchs auf Persönlichkeitsrechtsverletzungen befürwortet. Der BGH habe diese Frage bislang offengelassen (Beschl. v. 19.05.2023 - 2 BvR 78/22).

Weiterführende Links

Aus der Datenbank beck-online

  • EGMR, Fehlende Entschädigung für konventionswidrige Leibesvisitationen Strafgefangener, NJW 2022, 35
  • BGH, Spruchrichterlicher Tätigkeitsbereich im Sinn des § 839 Abs. 2 BGB; keine Aufopferungsansprüche auf Grund von richterlichen Maßnahmen im Sinn dieser Vorschrift, NJW 1968, 989

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